Bitte stimmen Sie jetzt

Irgendwie kommt mir das alles sehr bekannt vor: es gibt einen Delegierten mit Bart, der zu fast jedem Antrag seinen Senf dazugeben muss – so einen gab es bei den Jusos BaWü auch mal, bis er dann 35 Jahre wurde und nicht mehr teilnehmen durfte. Es gibt auch einen, der Parsa Marvi recht ähnlich sieht. Einer hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Niels Annen, aber der ist ja gar nicht aus BaWü.

In jedem Fall wird das hier gerade spaßig. Es wurde um Globalisierung diskutiert – ein klassisch linkes Thema natürlich. Und nun wurde abgestimmt wie wild. Was wir beschlossen haben, ist mir nicht so ganz klar, aber ich glaube, unsere Kompromisshaltung „ja mit Einschränkungen“ scheint durchgekommen zu sein. Ich sehe mich eh mehr als „Röstboskap“ (Stimmvieh) 🙂
Nochmal kurz zum Abstimmungsverfahren hier:

  • Erst wird gefragt, ob einem Antrag zugestimmt werden soll. Oft kommt es auch vor, dass zwei Anträge gegeneinander gestellt werden. Man sagt „ja“, um Zustimmung anzuzeigen.
  • Das Verfahren hat natürlich die Schwäche, dass wenn die Minderheit lauter schreit, ein verfälschter Eintrag entstehen kann. Daher kann man dann „Kvotering“ rufen, was dann zur Abstimmung mit dem Heben von Stimmkarten führt.
  • Ist dann jemand immer noch nicht zufrieden, kann er „Rösträkning“ (Stimmenzählung) rufen. Dann wird gezählt.

Die Möglichkeit, sich zu enthalten, gibt es im Übrigen nicht. Normal reicht meist die erste Stufe, aber bei kontroversen Themen kommt es öfters vor, dass mit Stimmkarten entschieden werden muss. Soeben häufig geschehen.

Woanders werden Entscheidungen durch viel Schweiß herbeigeführt. In Gelsenkirchen beispielsweise, wo Polen soeben gegen Ecuador verloren hat, womit ich mit meinen Vorhersagen gründlich falsch lag. Die letzten Minuten schaute ich mir im chinesischen Fernsehen an – dank Sopcast.

Im Deutschlandspiel gab es übrigens nur ein Abseitstor. Naja, wir haben ja so oder so gewonnen.

Es wird Zeit, zu zeigen, wie der schwedische Finanzminister aussieht:

Der geübte Beobachter wird feststellen: Er sieht wie ein verschwommener Fleck aus, der ein Polo-Shirt trägt. Im Ernst – ich bin immer wieder beeindruckend über die Formlosigkeit, die in diesem Land üblich ist. Der Justizminister fläzte sich auf dem Sofa, der Finanzminister kommt im Polo-Shirt. Ich weiß zwar nicht, ob das der Volksnähe dient, aber Politiker erscheinen hierdurch definitiv menschlicher. Wobei kein Zweifel daran bestehen kann, dass Politik überall ein schmutziges Geschäft ist.

Mittlerweile geht es um Antrag Nr. 23 – die Sozis sollen sich im Irak engagieren. Das ist eine gute Idee, wie mir scheint, auch wenn es mir schleierhaft ist, wieso daran gerade eine Diskussion aufbaut. In jedem Fall: Nette Idee – Freiwillige vor.

Der Verbandsvorstand will außerdem noch hinzufügen, dass die USA den Irak verlassen und durch eine UN-Truppe ersetzt werden sollen. Das halte ich persönlich für eine blöde Idee, weil mehr als nur fraglich ist, welches Land bereit ist, sich auf ein solches Himmelfahrtskommando einzulassen. Allerdings hab ich hier ja nicht zu melden, sondern nur schon bereits bei uns in Stockholm gefällte Beschlüsse auszuführen. Also werde ich auch dafür stimmen.

Scheiße gepfiffen, trotzdem gewonnen

Die entscheidende Frage ist nicht, wer gewonnen hat – nein, es ist vielmehr die, wie oft das schwedische Fernsehen es schafft, innerhalb eines Fußballspiels den Kanal zu wechseln. Ja, richtig gelesen: Kanal zu wechseln. Die Antwort ist: 3mal, und zwar:

17:15 Uhr – Beginn der Vorberichterstattung in SVT1 (erster Fernsehkanal) mit zwei weiblichen (ich wiederhole: weiblichen) Fußballexperten. Eine davon ist aber nur kurz zu sehen. Dafür darf dann ab sofort auch ein Mann mitreden. Ich habe zu diesem Zeitpunkt gerade einen Irish Pub gefunden, wo ein paar tätowierte Vorabendprolls abhängen und meiner klar erkennbaren Attitüde zum Trotz offenbar für Costa Rica sind, obwohl es ihnen eigentlich egal ist.

17:30 Uhr – Man sieht zwei erbärmlich kurze Fetzen der Eröffnungsfeier. Ein Experte sagt dass für die Deutschen „die Mannschaft“ (O-Ton) wichtig sei. Nun, bei welchem Fußballland ist dies nicht so?

18:05 Uhr – Lahm schießt ein Tor. Das Spiel scheint entscheiden.

18:15 Uhr – Kanalwechsel 1. Es wird eingeblendet, dass es jetzt auf SVT2 weitergeht. Ich hatte das zwar vorher schon im Fernsehprogramm gelesen, wollte es aber nicht so recht glauben. Zu allem Überdruss hat Costa Rica gerade ausgeglichen. Und wenn ich das richtig in der Zeitlupe gesehen habe, durch ein Abseitstor. Aber wir wissen ja alle: Abseits ist es nur, wenn der Schiedsrichter pfeift – was er dieses Mal nicht tat.

18:45 Uhr – Die Expertenrunde beredet das Spiel. Übrigens: Schweden hat auch ein Ballack-ähnliches Problem. Der Torwart ist nämlich verletzt.

19:00 Uhr – Es hat sich gerade fast ausexpertiert, da findet der nächste Kanalwechsel statt: wieder zurück zu Kanal 1. Es wird weiter gespielt. Klose hat übrigens in der 17. Minute nochmal vorgelegt. Das Spiel scheint wieder sicher. Er beschließt spontan, noch einen reinzumachen und erweitert auf 3:1. Mittlerweile hat sich das Prolllager verdünnt und neben mir sitzen zwei Studenten, die ebenso wie ich etwas enttäuscht sind, dass in Linköping offenbar kein Mensch an dem Spiel interessiert ist. Die Kneipe ist so gut wie leer.

19:30 Uhr – Es ist soeben wieder ein Tor für Costa Rica gefallen. Wieder war es laut Zeitlupe abseits. Wieder hat der Schiedsrichter nicht gepfiffen, also war es kein Abseits. So einfach kann Fußball sein. Daraufhin wechseln wir doch Kanal: überraschend auf SVT2.

19:45 Uhr – Kurz vor Schluss gibt der Schiedsrichter einen Elfmeter nicht. Ich liege zwar bei solchen Dingen notorisch falsch, aber das schien uns allen als ziemlicher klarer Strafstoß – sogar die Prollfraktion stimmt zu. Kurz darauf ist Abpfiff – wenn ich mit meiner Einschätzung nicht völlig falsch liege, auch für dieses Schiedsrichterteam. Mit solchen kapitalen Fehlern brauchen die wohl nicht mehr aufzulaufen.

Deutschland hat gewonnen – wer hätte das gedacht. Ohne Ballack und gegen einen komischen Schiedsrichter. Fußball ist bekanntermaßen das Spiel, bei dem 22 Leute über den Platz stolpern und am Ende gewinnt – naja, das kennt man ja.

Ich bin derweil zurück beim Kongress. Der Finanzminister hat übrigens ein Polo-Shirt getragen. Mehr derart brandheiße Infos kommen später.

Erste Eindrücke

Mittlerweile werden die ersten Anträge behandelt – im Moment geht es um ein Verbot von Pornografie. Wir haben uns glücklicherweise für einen Kompromiss entschieden. Der Antragsteller wollte nämlich alles in Erotik oder Pornorgrafie aufteilen, was meiner Meinung nach ein schwerer Eingriff in eine Reihe Grundfreiheiten wäre.

Hier ein Bilder:

Sosse hat ungefähr die gleiche Bedeutung wie Sozi auf deutsch – mir scheint aber ohne den Rote-Socken-Beigeschmack 🙂

Stark verrauschter Blick auf die Bühne (im Vordergrund Fredrik, unser Delegationschef)

Mein Deutschland-Schal und mein Laptop – beim DASDING-WM-Tipp soll auch ja alles funktionieren.

Meine beiden Banknachbarn – Ylva, die für Gleichstellungsfragen zuständig ist und momentan fast im Minutentakt zur Versammlung spricht, und August, der, wie sich mittlerweile herausgestellt hat, Drummer ist, schon im Substage in Karlsruhe war und außerdem für Moneybrother auf dem Southside Festival gespielt hat. Die Welt ist ein Dorf 🙂

Die Reihe vor mir links Paula, rechts Claudio

Unglaublich – jetzt spricht der schwedische Finanzminister. Mehr dazu später – eins kann ich schon sagen: er sieht ganz anders aus als Peer Steinbrück

Reiseblog…

Nach eineinhalb Monaten schreit dieses Weblog nach Belebung. Ich sitze in einem X2000, dem schwedischen ICE, und bin auf dem Weg nach Linköping (schwedische Aussprache: Linschöping). Das nicht von ungefähr, denn als eingefleischter Sozialdemokrat lasse ich es mir natürlich nicht nehmen, beim Kongress von S-Studenter, dem sozialdemokratischen Studentenverbund, dabei zu sein. Bis heute nacht um 3 sollen Anträge behandelt werden – klingt nach einer Menge Spaß. Ich bin Ersättare, also wörtlich übersetzt Ersetzer – auf deutsch passt wohl das etwas sperrige Wort Ersatzdelegierter am besten. Groteskerweise habe ich mich spontan in die Gruppe zur Behandlung der Fragen der Gleichstellung zwischen Frau und Mann angeschlossen – ein etwas heikles Feld, denn Prostitution und Pornografie kommen nach Auffassung vieler Sozis hier vom Teufel höchstpersönlich. Zur Prostitution habe ich mich vor kurzem hier ja geäußert – dankenswerterweise wird beim Kongress nicht noch einmal das Thema WM aufgegriffen.

Das würde mir heute auch mächtig die Stimmung vermiesen, denn es ist WM-Tag. Seit Tagen bewegen ich mich auf einer Woge nationalen Hochgefühls, habe Taschentücher beim Anschauen von „Das Wunder von Bern“, „Die Helden von Bern“ und „Das Wunder von Bern – die wahre Geschichte“ vollgeheult, habe nach 11 Monaten im Lande meine ansatzweise muffigen Deutschland-T-Shirts ausgelüftet und auch angezogen. So sitze ich hier: DFB-Cap, Deutschland-Schal, Germany-T-Shirt und Deutschland-Socken. Lediglich die Fahne ist im Schrank geblieben. Nichts kann einen Zweifel daran lassen, dass ich Klinsis Gurkentruppe von Herzen unterstütze.

Marc fragte, ob das nicht ein bisschen zuviel sei – nein, ist es nicht. Garantiert nicht. Ganz bestimmt nicht. Ich riskiere hier gerne, mich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen, denn wann darf ein Deutscher so offen Patriotismus zeigen wie an diesem Tag, der uns ein seit ein Monates herbeiersehntes, aber auch von der Werbung über alle Maßen penetrant beworbenes Ereignis bringen wird? Ich erhoffe mir vor allem eines: einen Schub – den nämlich, den Deutschland schon lange gebraucht hat, den weder schöne Ruckreden noch eine ambitionierte Kampagne wie „Du bist Deutschland“ hervorrufen konnte. Aber Fußball kann Berge versetzen – zumindest, wenn sie auf deutschem Territorium liegen. Am 4. Juli 1954 wurde Nachkriegsdeutschland geboren, 1974 wurde Helmut Schmidt Kanzler, 1990 brachte uns die Wiedervereinigung.

Und wenn am 9. Juli Michael Ballack die FIFA-Trophy entgegennehmen sollte, dürfte es zumindest für einen kleinen Schubs reichen.

Es kann beginnen…

Wegen nicht vorhandenem Internetzgang verspätet um 14:10 Uhr eingetragen.