Was von der Grippe(impfung) blieb

Vor gut 7 Monaten schrieb ich einen Artikel über die Schweinegrippeimpfung und über das wissenschaftlich halbgare Geschwätz, das über sie verbreitet wurde.

Nachdem sich der Staub gelegt hat und der Planet nach wie vor alle 24 Stunden um seine Achse rotiert, ist es möglich, zumindest in Ansätzen eine Art Zusammenfassung zu schreiben. Denn mittlerweile liegt der Abschlussbericht der schwedischen Arzneimittelbehörde vor – und da Schweden das Land ist, das wohl am konsequentesten geimpft hat, sind diese einen Blick wert. Über diesen Bericht würde freilich so gut wie gar nichts geschrieben, weil man damit kein Aufsehen erregen kann.

Die Zahlen sind nämlich so banal und harmlos, dass dieser ganze Sumpf aus Verschwörungstheorie und Impfgegnerschaft irgendwie ziemlich albern daherkommt.

Hier einige Dinge zusammengefasst:

  • Bis Mitte April 2010 waren rund 5,6 Millionen Dosen in Schweden verabreicht worden, wobei die Regionen Halland und Uppsala in dieser Erfassung fehlen. Auf der allgemeinen Seite ist von 6,1 Millionen Impfungen die Rede. Es dürften also rund zwei Drittel aller Einwohner Schwedens geimpft worden sein.
  • Der Anteil derjenigen unter den Geimpften, die Nebenwirkungen meldeten, pendelte sich knapp unter 0,5 Promille ein. Insgesamt wurden ca. 2150 Meldungen eingeschickt, die 3500 Reaktionen beschrieben.
  • 659 allergische Reaktionen traten auf, darunter 163 als ernsthaft eingestufte.
  • 769 neurologische Reaktionen traten auf, darunter 187 als ernsthaft eingestufte.
  • Das u.a. von dem Chef des Arznei-Telegramm, Wolfgang Becker-Brüser, in Interviews beschriebene Risiko, man könne an dem Lähmungserscheinungen hervorrufenden Guillain-Barré-Syndrom erkranken, ist ebenso statistisch an der Grenze zur Insignifikanz. Die Befürchtung bezog sich ja darauf, dass nach einer Grippewelle in den USA im Jahr 1976 dieses Syndrom etwas gehäuft bei Geimpften aufgetreten war. Deswegen legt der Bericht auch Augenmerk speziell hierauf. Sein Schluss:

    Es sind insgesamt 13 Berichte über das Guillian-Barré-Syndrom (GBS) eingesandt worden. Das Alter der Patienten variierte von 5 bis 82 Jahren. Sämtliche Fälle wurden von Neurologen beurteilt, und 12 der 13 Fälle hatten dokumentierte diagnostische Resultate, entweder mit CSF-Analyse [Anm.: vermutlich Rückenmarksflüssigkeitsanalyse] oder mit Elektroneurographie, die mit GBS übereinstimmten. […] Nach Untersuchung der berichteten Fälle sowohl in Schweden als auch von anderen Ländern in Europa ist die Schlussfolgerung, dass ein Zusammenhang zwischen den Pandemieimpfungen und GBS nicht ausgeschlossen werden kann, aber es keinen Grund zur Annahme gibt, dass das Risiko für GBS größer ist als bei einer saisonalen Grippeimpfung.

    Um das nochmal zu verdeutlichen: selbst wenn alle Fälle durch die Impfung hervorgerufen worden wären, läge das Risiko, an GBS zu erkranken, immer noch bei ca. 1:470.000. Zum Vergleich: in Deutschland erkrankt im Schnitt ca. einer von 80.000 Einwohnern im Jahr an GBS. Das reguläre Risiko für GBS dürfte also um ein mehrfaches höher liegen als das impfbedingte.

  • Nun zur großen Preisfrage: die Toten – manche Berichte wirkten ja fast so, als sterben durch die Impfung mehr Leute als durch die Grippe selbst. Insgesamt wurden 27 Todesfälle gemeldet, die nach der Impfung auftraten. Nach der Untersuchung dieser Fälle blieben noch vier Verstorbene übrig, bei denen ein Zusammenhang mit der Impfung nicht ausgeschlossen werden kann. Angenommen, diese wären alle impfbedingt, dann starb also einer von 1,5 Millionen Geimpften daran. In anderen Worten: um die Zahl der Schweinegrippentoten zu übersteigen, hätte man mindestens 13 Milliarden Menschen impfen müssen.

Bleibt eigentlich nur ein Fazit: sich gegen Schweinegrippe impfen zu lassen ist weniger gefährlich als eine Straße zu überqueren.

Soweit die medizinischen Risiken.

Bleibt der zweite Teil der Verschwörungstheorie: die Pharmaindustrie, die ihre unnötigen Impfdosen gegen Steuergelder austauschen ließ.

Auch hier bleibe ich dabei: es nachher besser wissen ist immer einfach. Bei SARS und Vogelgrippe, als die Leute umfielen wie die Fliegen, warf man der WHO vor, zu zögerlich gehandelt zu haben. Dieses Mal haben sie also überreagiert, was sich natürlich besonders leicht sagen lässt, wenn die betreffende Krankheit sich nachträglich als relativ harmlos herausstellt.

Ich frage mich, was die betreffenden Leute sagen werden, wenn irgendwann ein Virus kommt, der die Gefährlichkeit von SARS mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit von H1N1 kombiniert. Dann ist vermutlich die Regierung samt Pharmaindustrie daran schuld, dass nicht schnell genug geimpft wurde.

Die zentrale Lehre ist also, dass die WHO erneut ihr Verhalten ändern muss, um beim nächsten Mal weder über- noch unterzureagieren (dazu auch mehr hier). Eine taugliche Impfung steht jedenfalls zur Verfügung – und wenigstens in Schweden weiß man, wie man die Verteilung organisiert, was ich von Deutschland nicht unbedingt behaupten möchte. Dass so eine einmal gebraucht werden könnte und man schon vorgesorgt hat, finde ich eher beruhigend.

Deutsche arbeiten weniger…

Heute morgen fand ich auf dem Frühstückstisch folgenden Artikel in der Zeitung Dagens Nyheter (DN) vor:

Ausriss: Dagens Nyheter

Die Deutschen arbeiten laut dieser Schlagzeile also am wenigsten in der EU. 38,1 freie Tage soll der gemeine Deutsche so haben, während es der EU-Durchschnitt lediglich auf 33 Tage bringe. Die Schweden liegen mit 36 Tagen auf Platz 4. Hier die ganze Liste (Angaben in Tagen):

  • Deutschland: 38,1
  • Italien: 37,1
  • Luxemburg: 37,1
  • Dänemark: 37,0
  • Schweden: 36,0
  • Portugal: 35,8
  • Malta: 35,0
  • Österreich: 34,9
  • Spanien: 34,5
  • Slowakei: 33,8
  • Tschechien: 33,3
  • EU-Durchschnitt: 33,0
  • Litauen: 33,0
  • Griechenland: 33,0
  • Finnland: 32,8
  • Irland: 32,2
  • Lettland: 32,0
  • Norwegen: 31,9
  • Frankreich: 31,5
  • Zypern: 31,4
  • Slowenien: 31,0
  • Bulgarien: 31,0
  • Großbritannien: 30,5
  • Polen: 30,0
  • Ungarn: 30,0
  • Niederlande: 29,6
  • Estland: 29,0
  • Belgien: 28,2
  • Rumänien: 28,0

Da frage ich mich natürlich: wie kommt man denn auf diese Idee? Das nicht nur, weil es zum deutschen Selbstverständnis gehört, dass man arbeitet bis man nicht mehr kriechen kann, was sich natürlich hervorragend in die große Nachkriegssaga vom Wirtschaftswunderland einfügt. Vielmehr bin ich überrascht, weil ich Schweden an der Spitze erwartet hätte. Schließlich nehmen die Schweden nicht selten über einen Monat am Stück im Sommer frei. An Brückentagen oder Tagen vor hohen Feiertagen wird wenn überhaupt nur eingeschränkt gearbeitet.

Eine wahrscheinliche Erklärung gibt der Bericht selbst. Eurofound, das diese genaue Statistik (die Genauigkeit wird sehr deutlich hervorgehoben) erstellt hat, hat die Zahl der Feiertage im Kalender genommen und den gewerkschaftlich ausgehandelten Urlaubsansprich hinzugefügt. Vermutlich hat man sich hier die Feiertagsstruktur genau angesehen – so ist Mittsommer immer an einem Samstag, und 1. Mai und Nationalfeiertag können durchaus auch mal am Wochenende liegen. Fronleichnam und Pfingstmontag hingegen sind eben immer unter der Woche. So gibt es in Deutschland bis zu 6 wochentagssichere Feiertage, in Schweden hingegen nur 4. Aber auch hier sollte man die Kirche im Dorf lassen. Schweden hat nämlich 10 gesetzliche Feiertage. 9 der 16 Bundesländer haben aber auch nur 9 oder 10 Feiertage. Selbst wenn man nach Bevölkerungsmengen gewichtet, kommt man auf im Schnitt 10,9 Feiertage in Deutschland.

Damit wäre also mindestens die Hälfte der 2,1 Tage Differenz erklärt. Und die andere Hälfte? Hier wird es schwammig, denn Schweden hat anscheinend keinen gesetzlich vorgeschriebenen Mindesturlaubsanspruch. Meine Erklärung ist, dass die in deutschen Tarifverträgen ausgehandelten Urlaubsansprüche wohl leicht umfänglicher sind als die in den schwedischen.

Bei der geradezu unheimlichen Stärke der schwedischen Gewerkschaften ein überraschender Schluss, der aber nicht einer gewissen Logik entbehrt. Denn ich sehe bei der ganzen Sache zwei Knackpunkte:

  1. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist in Deutschland anzunehmenderweise weit geringer als in Schweden. Während hier selbst jede Imbissbude mit geradezu erpressungsartigen Methoden in die Tarifverträge gezwungen werden, sind weite Teile des deutschen Mittelstandes bestenfalls in Form eines Betriebsrats organisiert. Tarifverträge dürfte dort nur eine untergeordnete Rolle spielen.
  2. Arbeitstag ist nicht gleich Arbeitszeit. Das allgemein übliche Kaffeetrinken hierzulande („fika“), das sich anscheinend am Tag gerne mal auf 2×30 Minuten summiert, würde einen deutschen Chef auf die Palme bringen. Zudem sind Arbeitszeiteinschränkungen, um z.B. Kinder vom Kindergarten abzuholen, hierzulande weitaus üblicher als in Deutschland, wie mir scheint.

Die Verallgemeinerung von tariflich festgelegten Arbeitstagen zur allgemeinen Arbeitszeit der Bevölkerung scheint mir also nur bedingt möglich.

Die Fakten des Artikels scheinen also zu stimmen – die Überschrift hingegen ist irreführend.

Nachtrag 14:13 Uhr: Ich habe mich an die Autorin des Artikels gewandt und meine Einwände gegenüber der Überschrift dargelegt. Sie hat mittlerweile geantwortet und ist meiner Meinung. Sie hat sich schon beim Redakteur beschwert, der die Überschrift ausgewählt hat.
Nachtrag 15:25 Uhr: Wie ich gerade vernommen habe, sagt Eurofound, dass die Zahlen von letztem Jahr sind und nur sagen, wieviele Tage frei sind, nicht wieviele Stunden wirklich gearbeitet werden. Ein neuer Bericht mit mehr Details soll in den nächsten Wochen kommen.