Der Nobelpreis für Chemie und was kaum einem aufzufallen scheint

Dieses Jahr erhält zum ersten Mal seit 1964 eine Frau den Chemienobelpreis. Mit anderen Worten: zum ersten Mal seit 45 Jahren kam die Königliche Wissenschaftsakademie zum Schluss, dass eine Frau zu den Würdigsten gehört, diesen Preis zu erhalten. Das finden anscheinend aber nur die Jerusalem Post und die Washington Post so interessant, dass sie diesem Fakt ein paar Zeilen widmen. Die sonst an Geschlechtergleichheitsthemen interessierte schwedische Presse ergeht sich stattdessen zunächst einmal in Betrachtungen über das Alter der Preisträger. Erst in einem etwas versteckteren Artikel wird das Thema angesprochen, aber dann so:

Frage: Zwei Männer und eine Frau haben den Preis erhalten. Weshalb diese ständige Dominanz der Männer?

Antwort: Ganz im Gegenteil ist das ein voller Durchbruch für Frauen. Wir haben drei Frauen in den wissenschaftlichen Preisen dieses Jahr. Das ist ein Rekord – definitiv eine Trendwende.

Die Fragestellung suggeriert hier, dass ein Verhältnis 2:1 ein Normalzustand bei der Chemie sei, was natürlich nicht der Fall ist.
Ob man von einer Trendwende sprechen kann, sei auch dahingestellt. Bisher haben 16 Frauen den Preis erhalten. Auf Jahrzehnte verteilt sieht das so aus:

  • 1900er: 1
  • 1910er: 1
  • 1920er: 0
  • 1930er: 1
  • 1940er: 1
  • 1950er: 0
  • 1960er: 2
  • 1970er: 1
  • 1980er: 3
  • 1990er: 1
  • 2000er: 5

Man hätte also schon vor 20 Jahren von einer Trendwende sprechen können, die dann nicht eintrat. Zudem sind in diesem Jahrzehnt 3 der 5 Preise dieses Jahr vergeben wurden. Das ist wohl mehr eine zufällige Häufung.

Dass aus dem geringen Frauenanteil gerne geschlossen wird, Frauen würden benachteiligt, ist rein spekulativ. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, dass dies sich ändern muss. Nobels Vorgabe ist nun einmal, dass nur der Würdigste den Preis erhalten soll. Eine Geschlechterquote würde genauso wie eine Nationenquote diesem Ideal widersprechen. Die Akademie kann man für ihren Gleichmut diesbezüglich nur bewundern. Sie bildet mit der bevorzugten Auszeichnung amerikanischer Männer demographisch den Zustand der Wissenschaft vor einigen Jahrzehnten ab. Daher sind Forderungen an die Vergabegremien letzlich an den falschen Adressaten gerichtet. Stattdessen sind Wissenschaft und Gesellschaft heute gefordert, an diesem Zustand etwas zu ändern, damit in einigen Jahrzehnten eine Vergabe an eine Frau keine Besonderheit mehr darstellt.

Nachtrag:auch die Süddeutsche Zeitung erwähnt es am Rande, aber ansonsten ist der Bericht lausig recherchiert. Weder hat Dorothy Crowfoot Hodgkin ihren Preis 1965 erhalten noch wurden deutsche Forscher zuletzt 1988 ausgezeichnet. 1964 und 2007 wären die richtigen Zahlen gewesen.