Tjejmilen 2009

Als Zuschauer weile ich selten bei Läufen, was meistens daran liegt, dass ich nur unfreiwillig am Rand stehe und anfeuere. Heute war keine Ausnahme, denn die Tjejmilen heißt übersetzt ungefähr „Mädelsmeile“, was deren Charakter schon gut ausdrückt: hier dürfen nur Frauen starten.

Das alleine macht die Veranstaltung noch nicht zu etwas besonderem, denn Frauenläufe gibt es gelegentlich immer noch. Es ist auch nicht, dass es am Ziel Käsekuchen für die Finisherinnen gibt. Es ist die exorbitante Zahl der Anmeldungen. 26.000 Frauen hatten sich angemeldet und immerhin 21.350 kamen ins Ziel.

Es ist also ein lustiges Läuferfest, und ich kann mir unangenehmeres vorstellen, als vielen Frauen beim Laufen zuzuschauen. Also war ich gerne Unterstützer für meine Freundin und noch zwei weitere Läuferinnen.
Ich habe bewusst auf endlose Bildserien von laufenden Frauen verzichtet.

Leider muss ich aber auch etwas Kritik anbringen.

Das hat zum einen mit der Organisation an sich zu tun. Bei der Tjejmilen kann die Startgruppe frei gewählt werden, und zwar bis zur letzten Minute. Der Effekt, dass sich alle in eine Startgruppe stellen wollen, die eigentlich eine Nummer zu schnell für sie ist, wirkt sich hier als Massenbewegung aus. Die Mädels sehen, wie immer mehr in die Startgruppe davor gehen und haben den Eindruck, nur noch von langsamen Läuferinnen umgeben zu sein, die ein schnelles Vorankommen nach dem Start blockieren werden. Daher entscheiden sich immer mehr für den Startgruppenwechsel, und die letzten Startgruppen laufen leer. Die drei Mädels, die ich unterstützte, berichteten denn auch, dass in der Startgruppe 4, die für Läuferinnen mit einer gewünschten Zielzeit von 60 bis 62 Minuten vorgesehen war, auch viele Teilnehmerinnen enthielt, die von Anfang an walkten und damit nie auch nur in die Nähe einer solchen Zeit kommen würden. Das blockiert alle anderen erzeugt letzten Endes viel Frust.

In dem Zusammenhang muss man auch klar anmerken, dass der sportliche Charakter dieser Veranstaltung zweitrangig ist. Es ist eine Wohlfühlveranstaltung, bei der es ums Ankommen geht. Das kann man gut finden, aber es bringt auch einige Nachteile mit sich. Die Organisatoren haben als Hauptziel, ein Event mit möglichst vielen Teilnehmern daraus zu machen. Dass man wirklich frei laufen kann, soll zwar durch die Einteilung in Startgruppen erzielt werden, was aber misslingt, weil jeder Teilnehmer seine Startgruppe frei wählen darf. So ist es auf solchen Veranstaltungen (der Midnattsloppet ist da ähnlich) kaum mehr möglich, persönliche Bestleistungen zu erreichen, denn die langsamen Läufer bremsen die schnelleren aus. So ist der Lauf ein Erlebnis, aber auf den sportlichen Wert sollte man nicht zu sehr schauen.

Auch auf die Gefahr hin, dass mir Unverständnis entgegenschlägt und ich mit meiner Annahme zu sehr ins Spekulative gehe: die Tjejmilen ist für mich ein Beispiel dafür, welche heuchlerische Komponente die in diesem Land so hoch gehaltene Geschlechtergleichstellung hat. Nach vier Jahren hier kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gleichstellung immer dann besonders wichtig ist, wenn Frauen benachteiligt sind, aber weit weniger wichtig, wenn dies bei Männern so ist. Der einzige reine Männerlauf in der Region Stockholm, der ultraharte Geländelauf Tjur Ruset, wurde letztes Jahr auch für Frauen geöffnet. Auf der anderen Seite gibt es mehrere stark besuchte Läufe hier in Stockholm, die nur Frauen offenstehen. Das schwedische Gleichstellungsgesetz sieht Ausnahmen für Sportwettbewerbe vor, jedoch finde ich es bedenklich, wenn die Geschlechtern nicht nur getrennt starten, sondern ein Geschlecht kategorisch von der Teilnahme ausgeschlossen wird. Dies erweckt für mich den Anschein, dass man einen Wettkampf, der nur Männern offen steht, marginalisiert bzw. erst gar nicht wagt, anzubieten, während ein reiner Frauenwettkampf zu einem Massenevent hochgezogen wird, ohne dass daran irgendjemand etwas diskriminierendes findet.

Auswandererguide Teil X – Die Bürokratie: ein Prolog auf die weniger angenehmen Dinge im Leben

Schweden galt lange Zeit als idealer Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, besonders vor dem Zweiten Weltkrieg, wo solche Sozialromantik noch bedenkenlos gelebt werden konnte. Als sich dann die Blöcke bis auf die Zähne bewaffnet in Deutschland gegenüber standen, wurde es gerade deswegen oft in eine Nähe zum Kommunismus gerückt.
Dennoch, es waren idealistische Zeiten: die Wirtschaft funktionierte, und jeder war rundum versorgt. Noch heute gehört es praktisch zum Pflichtprogramm, mindestens einmal in jeder sozialdemokratischen Rede Olof Palme zu erwähnen, der wohl wie kein anderer diese goldenen Zeiten sozialdemokratischer Politik repräsentiert – am besten mit einem Zitat.

1986 wurde Palme dann ermordet, und schon wenige Jahre später ging es auch mit dem Sozialstaat bergab. Eine Wirtschaftskrise brach Anfang der 90er über das Land herein, was die bürgerliche Regierung jener Zeit zu harten Schnitten veranlasste. Zyniker werden allerdings anmerken, dass Einschnitte in das Sozialwesen von den bürgerlichen Parteien auch in wirtschaftlich guten Zeiten vorgenommen werden. Dennoch gilt Schweden heute immer noch als der „bessere“ Teil Europas, wo die Welt ein bisschen heiler zu sein scheint, gerade in Zeiten von Hartz IV.

Das Credo des hiesigen Systems lautet nämlich nach wie vor, dass keiner bevorzugt werden soll wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft, seines Familienstands oder seiner finanziellen Verhältnisse.

Das klingt vernünftig und wird wohl auch von den meisten Menschen außerhalb Skandinaviens so gesehen. Der Unterschied ist nur, dass man dies im Norden notfalls mit der Brechstange umsetzt. In Norwegen schreibt man mittlerweile unter Androhung der Firmenzerschlagung vor, dass in Firmenvorständen jedes Geschlecht zu mindestens 40% vertreten sein muss. In Schweden geht man nicht so weit, aber die 40% sind ebenso quasi als Verpflichtung zu verstehen. Bei Stellenanzeigen findet sich öfters der Hinweis, dass die Auswahl auch unter den Gesichtspunkten von Gleichstellung und Vielfalt erfolgt. Besonders bei Sicherheitsleuten und Polizisten, bei denen in Deutschland klar die Männer vorherrschen, fällt mir immer wieder auf, wieviele Frauen darunter sind.

Die finanzielle Gleichstellung wird in Schweden auch weniger extrem betrieben als beispielsweise in Finnland. Dort gibt es keine Superreichen, weil die Steuersätze irgendwann so hoch werden, dass es technisch fast unmöglich ist, noch reicher zu werden. Ein illustres Beispiel sind Bußgelder im Straßenverkehr. Die werden in Finnland nämlich nach den Einkommensverhältnissen berechnet. Ein Millionär zahlt für sein Knöllchen also Unsummen. Hier kann man sich ausrechnen, wieviel man denn selbst zahlen müsste.
In Schweden ist man da weniger radikal, auch wenn man in der Vergangenheit ebenso unglaublich hohe Steuersätze für gute Verdiener verlangte. Berühmt ist der Protest Astrid Lindgrens gegen diese Besteuerung, die in Extremfällen dazu führte, dass man praktisch das gesamte Einkommen an den Staat abführen musste. Der sozialdemokratischen Regierung kostete das damals die Wiederwahl.
Heute verlangt man weit weniger, aber die Gleichstellung von Familien und Kinderlosen, Ledigen und Verheirateten ist fest in das System integriert. Man versucht, über staatliche Angebote wie Kindergartenplätze und Studienkredite die freie Entfaltung aller zu unterstützen. Eliteuniversitäten und andere Kaderschmieden gibt es praktisch nicht. Selbst die Kronprinzessin ging, soweit man das anhand der Homepage ersehen kann, auf eine normale Schule. Auch ein Standesdenken wie in Großbritannien ist in Schweden, obwohl auch eine Monarchie, kaum vorhanden. Der König hat praktisch ausschließlich repräsentative Aufgaben, und daher sieht es mit der Vergabe von Grafschaften, Ritterschlägen und Orden eher mau aus. Alle duzen sich, die Organisationsstrukturen in den Firmen sind sehr flach, und so ist auch die Ansprache mit Titeln nicht mehr üblich. Dieser Wunsch nach allgemeiner Gleichheit ist sehr schön im sogenannten Jantelagen zusammengefasst.
In der Theorie spielt die Herkunft also keine Rolle, alle Ausbildungen stehen offen, und so ist die Chancengleichheit für alle gewahrt. In der Praxis gibt es freilich doch Unterschiede, denn besser Betuchten ist es immer gelungen, ihren Wohlstand zur Schau zur tragen, selbst wenn dies nicht im Geiste der Zeit war.
Wie auch überall sonst fahren die Reichen in Schweden teure Autos, spielen Golf, gehen auf die Jagd und haben noble Ferienhäuser. Natürlich wohnen sie auch in den eher noblen Wohngegenden. Ein interessantes Phänomen ist die sogenannte „Stureplanskulturen“. Der Stureplan liegt im Stockholmer Stadtzentrum und ist der Treffpunkt für alle, die reich sind oder gerne vorgeben, es zu sein. Die wichtigen Nobelmarken der Welt haben hier ihre Filialen und bringen unverschämt teure Produkte an den Mann oder die Frau. Der Effekt, der von dort ausgeht, ist, dass die dort gerade angesagte Kleidung und anderer Schnickschnack sich langsam ihren Weg in die breite Gesellschaft bahnt. Offenbar ist das, was dort getragen, begehrlich, und in bemerkenswerter Gleichförmigkeit passt sich die schwedische Mode an solche Trends an. Manchem Besucher dürfte nicht nur auffallen, dass sich diese Mode häufig von der mitteleuropäischen unterscheidet. Noch auffälliger ist allerdings, wieviele Menschen sich dieser Mode anpassen. Ein Beispiel sind die Jacken von Canada Goose. Diese sind vor allem daran zu erkennen, dass sie hinten am Kragen eine Stück Pelz (anzunehmenderweise im Sinne der political correctness natürlich ein Imitat) haben. Sie breiteten sich vor einigen Jahren vom Stureplan aus, und heute wimmelt es jeden Winter nur noch so davon. Das Streben nach Gleichheit hat so auch ein bisschen dazu geführt, dass diejenigen, die aus dieser Masse herausstehen wollen, nämlich die Reichen, auch stilbildend sind.
Trotz aller Wirrungen hat der schwedische Stil einen äußerst guten Ruf im Ausland. Ich kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass er im Lande selbst eigentlich eher einen gewissen Snobismus verkörpert. Ob das gut ist, das sei dahingestellt.

Die folgenden Ausführungen trachten nicht danach, das Bild vom blonden und allgemein in jeder Hinsicht besseren Schweden zu zerstören. Dennoch erscheint es mir wichtig, ein paar Eindrücke zu schildern, die nach dreijährigem Aufenthalt in diesem Land zusammengekommen sind. Diese Beiträge werden sich daher schon daher von den bisherigen Teilen unterscheiden, dass sie nicht beabsichtigten, das Thema in allen Facetten zu behandeln.
Ein Grund hierfür ist schlicht, dass ich mit den meisten Sozialsystemen hierzulande bislang keine Berührung hatte und auch keine intensiven Erfahrungen mit dem Steuersystem habe. Daher ist dies mehr als Streifzug zu verstehen.

Noch ne Länderliste

Heute wird ja mächtig gelistet – noch ein internationales Ranking, bei dem Schweden ganz vorne liegt: das World Economic Forum hat heute seinen Gender Gap Report 2006 vorgestellt. Der beurteilt, wie unterschiedlich die beiden Geschlechter in der Gesellschaft sind, und zwar nach vier Kategorien:

  • Wirtschaftliche Teilnahme und Möglichkeiten – Löhne, Beteiligung und Zugang zu hochqualifizierter Beschäftigung
  • Erlangung von Bildung – Zugang zu niederer und hoher Bildung
  • Politische Macht – Repräsentation in Entscheidungsstrukturen
  • Gesundheit und Überleben – Lebenserwartung und Verhältnis der Geschlechter

Die Skala ging von 0 bis 1. Die Liste:

  1. Schweden – 0,8133
  2. Norwegen – 0,7994
  3. Finnland – 0,7958
  4. Island – 0,7813
  5. Deutschland – 0,7524
  6. Philippinen – 0,7516
  7. Neuseeland – 0,7509
  8. Dänemark – 0,7462
  9. Grossbritannien – 0,7365
  10. Irland – 0,7335

Man beachte, dass der Abstand zwischen Deutschland und Island beträchtlich ist. Allzusehr freuen sollte man sich also nicht. Die Platzierung der Philippinen hat mich etwas überrascht, um ehrlich zu sein. Ebenso das schlechte Abschneiden Dänemarks. Die übliche Nähe der skandinavischen Länder zueinander ist hier nicht gegeben.
Das gute Abschneiden Deutschlands ist auch eine „Teamleistung“ – keine massiven Schwächen, aber nirgendwo auch richtig gut.

In der Kategorie der wirtschaftlichen Möglichkeiten sind wir nur auf Platz 32. Schweden ist hier auf Platz 9. Interessanterweise führt hier Tansania. Auf Platz 2 liegt Moldawien, was auch etwas überraschend wirkt. Die nächsten Plätze sind USA, die Philippinen und Ghana.

Bei der Bildung gibt es zahlreiche erste Plätze: die Philippinen, Dänemark, Grossbritannien, Irland, Australien, Jamaika, Lesotho, Luxemburg, Dominikanische Republik, Frankreich und Honduras – eine wahrhaft illustre Auswahl. Deutschland landet hier auf Platz 31, Schweden auf Platz 22.

Bei der politischen Beteiligung, wo wohl der politische Wille zur Gleichstellung und die politische Kultur am meisten einfliessen dürften, ist es kein Wunder, dass das Gesamtranking weitgehend widergespiegelt ist. Die Plätze 1 bis 4 sind identisch, auf 5 kommt Spanien, Deutschland auf 6.

Bei er Gesundheit dann Deutschland wieder im Mittelfeld auf Platz 36. Hier schneidet Schweden sogar nur auf Platz 70 ab, Island gar nur auf Platz 92. Den wiederum mehrfachen ersten Platz belegen die Philippinen, Sri Lanka, Moldawien, Kolumbien, USA, Österreich, Costa Rica, Belgien und noch eine ganze Reihe weitere, darunter auch Mauretanien, das in der Gesamtwertung nur Platz 106 belegt.

Auffällig sind für mich Moldawien und die Philippinen. Moldawien liegt insgesamt auf Platz 17 mit 0,7128 Punkten, und scheitert vor allem an politischer Beteiligung und der Bildung. Die Philippinen haben nur bei der politischen Beteiligung einen Ausreisser nach unten (Platz 16).

Die letzten sind übrigens Nepal, Pakistan, Tschad, Saudi-Arabien und der Jemen – was wiederum wenig überraschend ist.