Gelesen: Volksparteien ohne Volk

Seit knapp einem Jahr verbringe ich fast an jedem Werktag eine Stunde in einem Direktbus nach Slussen. Das ist bequem. Insbesondere erlaubt es mir, viel zu lesen. Etwas, das ich in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt habe.

Bis vor kurzem las ich „Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Demokratie“ von Hans-Herbert von Arnim.

Da steht wohl auch viel Wahres darin. Gut recherchiert ist es allemal.

Jedoch gibt es einige Dinge, die schon alleine vom Stil her auffallen. Der Autor pflegt gerne die Selbstreferenzierung. Da heißt es, der Autor habe dies oder jenes gemacht. Das alles mit dem Unterton, dass schon ein Beitrag seinerseits eine öffentliche Debatte erzeuge.
Ähnlich unschön ist die ausgeprägte Redundanz des Buches. So wird oft innerhalb von 20 Seiten der gleiche Fakt mehrfach aufgetischt – als könne man damit einen Effekt erzielen. Es ließe sich ja mutmaßen, dass dieses Buch noch vor der Bundestagswahl erscheinen sollte und deswegen etwas nachlässig lektoriert wurde. Aber daran kann die ständige Wiederholung nicht liegen, denn sie wird meist mit dem Hinweise „siehe Seite XX“ versehen. Ich habe es daher auch gegen Ende weggelegt, weil ich wusste, dass auf den letzten 30 Seiten nichts mehr kommen wird.

So einleuchtend viele seiner Argumente sein mögen, so ambivalent sind sie oft bei näherem Hinsehen.
Das erklärt sich schon alleine an dem, was als seine innere Überzeugung durchscheint. Für ihn ist ein Parteienstaat anscheinend untauglich, die Interessen der Bürger zu vertreten.

Für ihn ist daher ein Wahlrecht automatisch undemokratisch, bei dem der Bürger nicht direkten Einfluss darauf hat, wer ihn vertritt. Sein Argumentationslinie ist dabei, der „politischen Klasse“, wie er sie gerne nennt, vorzuwerfen, sie würde systematisch darauf achten, dass die allermeisten von ihnen wieder im nächsten Bundestag sitzen würden. In der Tat gibt es dazu allerlei kritikwürdige Instrumente. In der Realität bestimmen die Parteien Listen- und Wahlkreiskandidaten, und da die viele Wahlkreise fest in der Hand einer Partei sind, ist eine Nominierung dort mit einer Wahl gleichzusetzen. Genauso ist es mit der Liste, auf deren Zusammensetzung der Wähler keinen Einfluss hat.

Dass aber die feste Belegung vieler Bundestagsplätze mit der kompletten Vorentscheidung durch die Parteien gleichgesetzt wird, ist fragwürdig. Dabei übersieht er, dass auch in ganz anders gestrickten Wahlsystemen die meisten gewählten Repräsentanten viele Jahre ihr Mandat behalten. Im Senat der Vereinigten Staaten haben mehr als die Hälfte der Abgeordneten ihr Mandat schon mehr als zwei Wahlperioden.

Auch wiederholt er mehrfach den Vorwurf, dass viele über die Liste eingezogene Kandidaten einen Wahlkreis vertreten, in dem sie selbst erfolglos als Kandidat für das Direktmandat angetreten waren. Von Arnim argumentiert also, diese Leute hätten gar keinen Anspruch, die Menschen dieses Wahlkreises zu vertreten. Jedoch wäre vermutlich er unter den ersten Kritikern, wenn Listenkandidaten gar keinen Wahlkreis vertreten würden, denn dies würde die vermeintliche Abgehobenheit der Abgeordneten noch weiter zementieren. Man kann es einem Listenkandidaten wohl kaum verdenken, dass er den Wahlkreis vertreten möchte, in dem er selbst angetreten ist, denn diesen kennt er auch am besten. Es ist ja auch keineswegs so, dass dies in allen Wahlkreisen so wäre.

Immer wieder legt er dar, wie ungeheuerlich sich die Politiker seiner Ansicht bei den Diäten bedienen. Er setzt blind voraus, dass Diäten unangemessen sind, wenn er sie dafür hält. Sein Hauptvorwurf ist, dass eine Entscheidung, die in eigener Sache getroffen wird, tendenziös sein muss. Folglich kann ein Politiker, der über sein eigenes Gehalt zu bestimmen hat, gar nicht objektiv handeln. Ein schlüssiger Punkt – jedoch bleibt unklar, wer denn sonst die Diäten festlegen soll. Eine genaue Festlegung schreibt das Bundesverfassungsgericht vor, und man kann wohl schwerlich den Verfassungsorganen ein Gremium vorsetzen, das über die Diäten zu bestimmen hat. Die Entscheidung in eigener Sache ist also ein notwendiges Übel. An Alternativvorschlage aus dem Buch kann ich mich nicht erinnern.

In vielen Dingen hat er allerdings recht. Wie kann es sein, dass die oberen Parteigremien praktisch alleine bestimmen, welche Personen in den Bundestag überhaupt einziehen können, während dem Bürger und selbst dem einfachen Parteimitglied nur tendenzielle Mitbestimmung gewährt wird?
Sollte der Bürger nicht auch die Möglichkeit haben, eine Partei zu unterstützen, ohne deren Personalauswahl widerspruchslos hinnehmen zu müssen?

Das sind wichtige Fragen, auf die von Arnim Antworten gibt, die vor allem in den Bereich des Mehrheitswahlrechts gehen.

Man muss mit seinen Lösungsvorschlägen nicht konform gehen, auch ich tue es nicht. Aber die Punkte, die er vorträgt, sollten diskutiert werden.

Allerdings ist fraglich, ob man dies am besten auf die Art tut, indem man über Hunderte von Seiten immer wieder die gleichen Argumente wiederholt.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Es ist manchmal schon schade, wenn man erst nach der Wahl entdeckt, wen man noch hätte wählen können:

Dieser Herr heißt Miguel Angel Sosa Vásquez, ist 62 Jahre alt und Schriftsteller von Beruf. Außerdem hat er offenkundig nicht mehr alle Latten am Zaun, wie schon ein erster Blick auf seine Homepage verrät.
Er ist Spitzenkandidat der Partei

666 för en EU:s Super-state med frihet, jämlikhet, rättvisa, fred, kärlek och lyckan

was mir auch nicht gerade als korrektes Schwedisch erscheint. Übersetzt heißt das soviel wie „666 für ein EU-Superstaat mit Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden, Liebe und Glück“.

Programmatisch hat das irgendwas mit Sissi zu tun – das kommt natürlich immer gut.
Für die Spitzenkandidatur musste er nicht viel tun, denn er ist auch der einzige Kandidat. Er möchte EU-Präsident werden. Vielleicht sagt ihm jemand noch vor 2014, dass es diesen Posten gar nicht gibt. 7 Stimmen hat er mit diesem überzeugenden Programm bekommen.

Auch sonst sorgt die Möglichkeit, in Schweden eigene Parteien auf den Wahlzettel schreiben, immer wieder für allerlei Kreativität.

Hier einige der Parteien, die dieses Mal gewählt wurden:

  • Kalle Anka Partiet (Donald-Duck-Partei) – ein Klassiker, der jedes Mal einige Stimmen bekommt. Dieses Mal sechs Stück landesweit.
  • Anarkistiska isberg (anarchistischer Eisberg) – eine Stimme
  • Hasch Partiet (kann man sich denken) – eine Stimme
  • Partiet för lättskalade apelsiner (Partei für leicht schälbare Apfelsinen) – eine Stimme
  • Spackel från Stora Torg (Spachtel vom Stora Torg, wobei ein „Stora Torg“ wörtlich übersetzt ein großer Platz ist) – eine Stimme

Ich finde, in Sachen Comedy-Faktor hat das deutsche Wahlsystem noch etwas nachzuholen.