Talsinki und der Ostseeraum

Talsinki - dynamischer Raum in der Ostsee (Bild: Flickr-User Marjut, CC BY-NC-SA 2.0)

Gestern fiel mir ein Podcast von SWR2 Wissen auf, der vor kurzem die Verkehrsentwicklung im Ostseeraum an schönen Beispielen beschrieb.

Eines davon ist die dynamische Entwicklung der Hauptstädte Tallinn und Helsinki, die spätestens seit dem EU- und Schengenbeitritt Estlands durch geringe Entfernung (rund 70 km über das Meer) und ähnliche Sprache sehr nah aneinandergerückt sind. Man spricht mittlerweile schon von Talsinki. Interessant auch, dass dort relativ offen über eine direkte Verbindung der Städte durch einen Tunnel gesprochen wird. Ich halte es allerdings wegen der Abstände und den zu erwartenden exorbitanten Kosten für Träumerei.

Weit realer ist das andere und hier schon öfters diskutierte Beispiel der Fehmarnbeltquerung. Es kommt u.a. der Malte Siegert zu Wort, der das Aktionsbündnis gegen den Bau der Querung anführt. Immerhin begrüßt er, dass nun statt einer Brücke ein Tunnel gebaut werden sollte, wenn auch kein gebohrter Tunnel.
Die restlichen Argumente sind bekannt: ökologische Bedenken wegen des Eingriffs ins Meer und eventuelle Effekte auf den lokalen Tourismus.

Alles sehr hörenswert – ich störte mich aber an einem Argument, das von Karl-Heinz Breitzmann, Direktor am Ostseeinstitut Rostock, ins Feld geführt wird. Breitzmann sagt zunächst:

Man muss also als Ökonom […] eine Nutzen-Kosten-Gegenüberstellung machen. […] Welchen Nutzen würde denn eine solche feste Querung haben im Vergleich zur jetzigen hocheffizienten Lösung? […] wenn man sich einmal […] die hohen Investitionen und auch die nicht unerheblichen Betriebskosten, wenn der Tunnel dann genutzt wird, im Vergleich zur jetzigen Fährlösung ansieht, dann kommt man auf ein sehr ungünstiges Nutzen-Kosten-Verhältnis. Und dann fragt man sich: Haben wir nicht viele andere große Projekte, Verkehrs- und Infrastrukturprojekte im Ostseeraum, die ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis haben?

Direkt im Anschluss sagt der Sprecher:

Projekte wie die Anbindung des Hinterlands im östlichen Teil Europas etwa, die fehlt vor allem in Teilen Russlands und in den baltischen Staaten. Autobahnen nach westlichem Vorbild gibt es dort fast keine, und in Estland beispielsweise ist ein Schienennetz quasi nicht vorhanden.

Das Problem dabei ist, dass ein Zusammenhang entsteht, der meines Erachtens nicht existiert. Der Tunnel wird meines Wissens nämlich zu 100% vom dänischen Staat finanziert, der sein Geld für Dänemark ausgeben will und nicht für Eisenbahnstrecken in Estland.
Das Ganze so hinzustellen, als käme das Geld aus irgendeinem EU-Fördertopf, der sein Geld nach Priorität verteilen soll, ist also irreführend. Wenn das Geld nicht dort ausgegeben würde, dann woanders in Dänemark, aber bestimmt nicht in anderen Teilen des Ostseeraums.

Schwedenwochen bei SWR2

In den letzten Monaten gab es eine kleine Häufung von schwedenbezogenen Themen bei SWR2. Die Podcasts dürften für interessierte Kreise hörenswert sein. Hier eine Zusammenstellung:

  • IKEA möbelt auf – Eine Weltfirma und ihr Image: eine interessante Reportage über IKEA und dessen Gründer Ingvar Kamprad. Es geht u.a. auch über sein nicht zu zerstörendes Image in Schweden, obwohl IKEA heute nur noch zu Teilen in Schweden sitzt und ansonsten ein undurchsichtiges Geflecht aus Stiftungen in steuerlich billigeren Ländern ist und Kamprad selbst seit Jahrzehnten in der Schweiz wohnt – wenn auch nicht gerade im steuerlich günstigsten Teil, wie man der Fairness halber anmerken sollte.
  • Selma Lagerlöf – Dichterin des Nordens: ein Feature über die Nobelpreisträgerin, die eine von Schwedens größten Schriftstellern ist. Dem Durchschnittsschweden dürfte sie trotzdem in erster Linie wegen Nils Holgersson und ihrer Abbildung auf dem 20-Kronen-Schein bekannt sein, der deswegen auch Selman genannt wir. Dort findet sich aber auch ein Hinweis auf ihre anderen literarischen Leistungen, nämdlich der legendäre erste Satz aus „Gösta Berling“: „Endlich stand der Pfarrer auf der Kanzel.“
  • Morden im Norden – Das Geheimnis der Schwedenkrimis: dieses Feature geht der Frage nach, wieso Krimis ausgerechnet aus dem Land so gerne gelesen werden, das sonst als pure Idylle gesehen wird. U.a. wird auch auf das Bullerbü-Syndrom eingegangen.

Die Geschichte von den subantarktischen Schwaben und den Medien, denen man nicht alles glauben sollte

Ich liebe Inseln, weil ich geographische und weltgeschichtliche Kuriositäten liebe. Eilande sind offenbar prädestiniert dafür. Dass z.B. in der Karibik die einzige Grenze zwischen Frankreich und den Niederlanden zu finden ist, finde ich höchst interessant.

Wärme und Exotik sind jedoch nicht verpflichtend. Eher mag ich den rauen Charme. Daher habe ich mich auch eingehend mit den subantarktischen Inseln beschäftigt. Diese zeichnen sich durch unglaublich mieses Wetter – sozusagen Dauerorkan mit zweimal Sonne im Jahr – aus, weswegen sie größtenteils nicht oder nur von sehr wenigen Menschen bewohnt sind.

Dementsprechend spannend fand ich die Sendung „Sender am Ende der Welt – Radio Neuschwabenland im Indischen Ozean“ auf SWR2, anzuhören hier und nachzulesen hier.

Kurz die Geschichte: auf den zu Frankreich gehörenden Kerguelen-Inseln landete vor 150 Jahren eine schwäbische Auswanderergruppe. Sie hat sich Sprache und Kultur der Vorfahren erhalten, und heute leben gut 700 von ihnen im Ort Port-aux-allemands. Sie züchten den vitaminreichen Kerguelenkohl, fischen Austern, aber vor allem betreiben sie den kleinen Radiosender „Radio Neuschwabenland“, der das kulturelle Leben auf der Insel widerspiegelt. Und sie leben mit ihren französischen Nachbarn in Frieden zusammen.

Das ist ja hochinteressant, dachte ich mir: 700 Schwaben, die possierlich in breitestem Schwäbisch erzählen, leben auf einer Insel am Ende der Welt. Wie konnte mir so etwas entgangen sein?

Also begann ich etwas zu recherchieren, und die Seltsamheiten häuften sich. Hier einige Beispiele:

  • Die Einwohnerzahl von fast 1000 Leuten auf der Insel ist für diese Breiten außerordentlich hoch. Mit Ausnahme der Falklandinseln erreichen alle subantarktischen Inseln gerade so dreistellige Einwohnerzahlen.
  • Es findet sich keine Spur von den subantarktischen Schwaben im Netz, was heutzutage schon fast verdächtig ist. Jedoch finden sich Reiseberichte über Kerguelen, die von der Forschungsstation Port-aux-Français erzählen, aber die deutsche Siedlung unerwähnt lassen. Auch der umfängliche Wikipediaartikel zur Insel sowie das CIA Factbook schweigen sich aus.
  • Der Sender benutzt Frequenzen, die für Rundfunk vollkommen unüblich sind. Die verwendete Langwellenfrequenz 103,7 kHz ist zu genau angegeben und liegt rund 50 kHz unter dem normalen Rundfunkband. Die Kurzwellenfrequenz 2073 kHz ist auch zu tief, und zwar so tief, dass sie schon eine Mittelwelle ist.
  • Der Radiochef heißt Fred Rattenhardt, was für sich genommen schon nicht gerade ein schöner Name ist. Es gibt aber noch ein anderes Problem mit seinem Namen: es existiert in Deutschland nicht oder nur in extrem geringem Umfang, wie sich in einschlägigen Datenbanken herausfinden lässt.
  • Der Sportreporter berichtet nicht wie behauptet aus dem Olympiastadion, denn das Ereignis, über das er berichtet, ist die Abschlussetappe des Giro d’Italia 1958, der über 10 Jahre vor dem Bau des Stadions stattfand. Dass er nach Kerguelen berichtet, ist bei der damaligen Technik auch kaum denkbar – er regt sich wohl eher über die schlechte Telefonleitung nach Deutschland auf.
  • Der Kerguelenkohl existiert zwar, aber angebaut wurde er wohl nie.
  • Die Professorin Sieglinde Ewerich und ihr „Lehrstuhl für Neuere Geschichte des südpazifischen und subantarktischen Raumes“ existiert zumindest im Internet nicht.

Spätestens bei dem Radrennen war natürlich klar: was da präsentiert wird, ist frei erfunden. Es gibt außer der Besatzung der französischen Forschungsstation niemanden auf Kerguelen, schon gar keine Schwaben. Quod erat demonstrandum.

Die entscheidende Frage blieb aber unbeantwortet: Wie kam am 16. Februar 2010 ein Fake in eine hochseriöse Sendung wie SWR2 Wissen? Hatte ich vielleicht eine Tradition verpasst, die neben dem 1. April noch ein weiteres Fenster für Journalistenschabernack offen lässt?

Also tat ich, was oft am besten ist: jemanden fragen, der sich damit auskennt. Dem war so eine Tradition aber auch nicht gegenwärtig.

Vielleicht war es also ein falsch versendeter Aprilscherz? Hatte es vielleicht etwas damit zu tun, dass der Sendetermin der Fasnachtsdienstag war? Oder war hier ein Medienskandal aufzudecken?

Ein handfester Scoop manifestierte sich da in meinem Kopf. Bei der FTD hätte ich dafür die obligatorische Flasche Scoop-Schampus eingeheimst. Woodward und Bernstein würden erblassen vor Neid.

Nach längerem Zögern schrieb ich den Autor des Features, Udo Zindel, an.

Die Lösung des Rätsel: man wollte die alte alemannische Tradition der Späße in der Fasnachtszeit ausnutzen und einen Fake an einem Tag platzieren, an dem die Leute nicht damit rechnen.

Eine interessante Idee und ein interessantes medienwissenschaftliches Experiment, das vorführt, wie leicht man Dinge aus einer vermeintlich seriösen Quelle glaubt.

Vorbehaltlos kann ich mich für dieses mit viel Liebe gemachte Stück Inszenierung aber nicht begeistern. Meine Meinung, man solle dies doch auf der Internetseite von SWR2 entsprechend kenntlich machen, da die Sendung ja dort auch noch lange nach Fasnacht abrufbar ist, teilte Udo Zindel nicht.

Das Herausnehmen solcher Freiheiten jenseits des 1. April hinterlässt bei mir den Eindruck, dass hier eine Grenze durchbrochen wurde. Wenn die Zahl der Tage, an denen man mit Enten in den Medien rechnen muss, von eins auf zwei ansteigt, dann scheint mir der Weg zu drei nicht mehr so weit. Wenn man jeden Fakt einer eigentlich glaubwürdigen Quelle nachrecherchieren muss, dann gibt es irgendwann gar keine glaubwürdigen Quellen mehr. Dies stellt aus meiner Sicht ein großes Problem der modernen Mediengesellschaft dar, denn ohne Ordnung in einem enorm gewachsenem Angebot schwinden Indikatoren dafür, ob man das, was man sieht, hört und liest, auch glauben kann. Dann braucht man im Grunde gar keine Medien mehr, weil man ohnehin selbst alles herausfinden muss. Die Informationsgesellschaft könnte genauso gut eine Desinformationsgesellschaft sein.

Wenn diese Nachdenklichkeit der Zweck der Veranstaltung sein soll, dann ist das sicherlich positiv zu werten.

Ich denke dabei aber auch an diejenigen, die die Sendung geglaubt haben und sich nun fragen, wie die Maultaschen aus Kerguelenkohl schmecken, die eine subantarktisch-schwäbische Mutter heute auf dem Herd stehen haben mag. Gerade weil sich die Wichtigkeit einer kritischen Grundhaltung in diesem Falle nur denen erschließt, die sie schon haben, geht die Lektion an denen vorbei, die sie erreichen müsste.