Es traf mich unerwartet: Randy Cohen hört auf. Noch nie von ihm gehört? Schade eigentlich, denn er war 12 Jahre lang der Autor der Kolumne „The Ethicist“ in der New York Times. Wie der Name schon andeutet, geht es dort um ethische Fragen, oder vereinfacht darum, in Zweifelssituationen das moralisch richtige zu tun.
Oft habe ich die Kolumne auf dem MP3-Player während meiner Arbeit als Busfahrer gehört. Es ist nicht nur von rein akademischem Interesse. Gerade das Busfahren und insbesondere der Umgang mit den Fahrgästen hat mich öfters in Zweifel gestürzt, ob ich denn richtig gehandelt habe. Meistens musste ich feststellen, dass ich es zumindest hätte besser machen können. Meist ging es um den Umgang mit dem Konflikt – aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen sind Schwarzfahrer uneinsichtige Menschen – denn im Unrecht in der Sache war ich nur selten.
Ironischerweise ereilte mich die Kunde von Cohens Abgang zu dem Zeitpunkt, an dem ich selbst dabei war, meinen Hut zu nehmen. Es war mein vorletzter Arbeitstag als Busfahrer. Heute läuft mein Vertrag aus. Nach 3 Jahren und 8 Monaten endet meine Karriere in diesem Beruf.
Vernunft und Arbeitgeberregularien – oft ein Widerspruch
Eigentlich mochte ich den Job immer. Ich wollte Aktivitäten, die ich schätzte, in meinem Leben halten, auch wenn man eben nicht alles gleichzeitig machen kann. Lange Zeit war es eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle. Aber auch eine, die ihren Tribut forderte. Meine Chefs bzw. die Firma Busslink bestanden darauf, dass ich mindestens 20% einer Vollzeitstelle leistete, was auf ca. 4 Tage im Monat hinauslief. Das neben meiner Haupttätigkeit zu bringen bedeutete im letzten Jahr nicht selten, dass ich zwei Wochenenden im Monat aufgab, was wiederum mit sich brachte, dass ich über zwei Wochen (und mehr) keinen freien Tag hatte. Hatte man etwas vor, so legte man die Arbeitstage außen herum. Letzten Endes gab es nur zwei Arten von Wochenenden: solche, an denen etwas geplant war, und solche, an denen man arbeitete. Erst in letzter Zeit fiel mir auf, wie schön es ist, wirklich frei zu haben an diesen Tagen.
Die Idee, dass man neben seinem 20%-Job vielleicht noch einen 80%- oder gar 100%-Job haben könnte, der nicht so flexibel ist, kam bei meinen Chefs nie ganz durch und dementsprechend auch nicht gewürdigt. Obwohl anscheinend ständiger Personalmangel herrschte – ich wurde über lange Zeit mehrmals pro Woche angerufen – war die unumstößliche Grenze von 20 Prozent wichtiger als die Deckung des Bedarfs. Jedes Mal, wenn die Vertragsverlängerung anstand – und das war meist alle 6 Monate – schrammte ich knapp an diesem Limit entlang. Ich konnte noch so glaubwürdig vorrechnen, dass ich gerne auch 20 Prozent des Urlaubs hätte, mir also auch mal erlauben wollte, frei zu haben, aber verfangen hat dies selten. Ich musste mich rechtfertigen, dass ich nicht noch mehr brachte.
Letzten Endes transportierte dies auch die Botschaft, dass ich für die Firma nicht wichtig bin. Gerade in letzter Zeit wurde mir bewusst, dass es im Grunde egal ist, ob ich meinen Job gut mache. Nie hatte ich ein Mitarbeitergespräch, das den Namen verdient hätte. Nie gab es Lob oder Tadel. Selbst wenn es Beschwerden über mich gegeben haben sollte – und die gab es bestimmt – habe ich davon nie erfahren.
Deutlich machte mir das aber erst die Episode mit meinem Strafzettel im November. Ich bin immer noch überzeugt, dass die Firma diesen unsinnigen Strafzettel hätte annullieren lassen können, wenn nur jemand mit der beauftragten Parkfirma Q-Park gesprochen hätte. Schließlich war es Busslink (bzw. jetzt Keolis) selbst, die den Parkplatz besitzt, und einen Mitarbeiter wegen einer kleinen Nachlässigkeit um fast seinen ganzen Nettotageslohn zu bringen ist wohl in niemandes Interesse. Die Unwilligkeit meines Chefs, irgendetwas zu unternehmen, warf die Frage auf, wieso ich mich für die Firma einsetze, wenn die Firma dies nie für mich tut.
Ich kündigte an, meinen Vertrag nach Ablauf nicht mehr zu verlängern, worauf man mir die Standardformel „wir respektieren deinen Entschluss“ entgegnete. Die Sache wurde abgerundet durch ein letztes Telefongespräch mit meinem Chef in der Woche, in der ich meinen letzten Arbeitstag hatte. Er hielt mir wieder einmal vor, ich hätte nur 18% gearbeitet, was so kaum stimmen kann, da ich letztes Jahr im Sommer teilweise 6 Tage pro Monate gearbeitet habe und nach dem Urlaub im Dezember meinen 4-Tage-Schnitt konstant hielt. Ich sagte ihm, dass ich das nicht so sehe, aber es nun egal sei, weil ich aufhöre. Da meinte er, er wisse dies schon, aber er müsse nochmal nachfragen. Wenn ich das richtig verstanden habe, war das also eine Pflichtschuldigkeit, bevor er mich los ist. Zu guter Letzt wollte er, dass ich meine Arbeitssachen noch vor Ablauf des Vertrages einreichen solle. Das werde ich nicht, schon aus terminlichen Gründen, was er dann auch hinnahm – immerhin.
In den drei Jahren meiner Tätigkeit hatte ich vier Chefs – es gab beträchtliche Umwälzungen in dieser Zeit. An den Namen meiner ersten Chefin erinnere ich mich nicht mehr, weil sie direkt danach aufhörte. Dann kam Mats, der nett war, aber den ich nur ein- oder zweimal getroffen habe. Es folgte Milton, den ich schon von seiner Tätigkeit als Chef vom Dienst kannte, wo er die Busse verteilte und schaute, dass alle Dienste gedeckt sind. Er machte mir es mit der 20%-Regel nicht einfach, aber man konnte mit ihm reden. Sein Nachfolger Efrem kommt definitiv am schlechtesten weg, denn es ist er, der mir nicht helfen wollte, und der auch ganz froh zu sein schien, dass ich aufhöre.
Es ist also nicht ohne Bitterkeit, dass ich meinen Hut nehme. Die Wehmut bezieht sich denn auch nicht auf eine Firma, von der ich zwar viel hatte in Form von zusätzlichem Einkommen, eines Versicherungspakets und einer Dienstfahrkarte (ich war selbstverständlich immer im Dienst). Sie bezieht sich vielmehr darauf, dass es schon cool war, so ein Riesengefährt durch die Stadt zu steuern, und dass ich es in absehbarer Zeit nie wieder tun werde. Ich werde es bald wohl weitgehend verlernt haben.
Ein ambivalentes Verhältnis zum gemeinen Passagier
Zurück bleiben die Erinnerungen an Erlebnisse, positive wie negative, auch wenn man konstatieren muss, dass letztere überwiegen. Konflikte mit Fahrgästen waren häufig, vor allem, weil ich es mit dem Tickets sehr genau nahm, wenn ich Schwarzfahrer erwischte. Die gelegentliche Genugtuung, richtig gehandelt zu haben, die Freude daran jemandem geholfen zu haben, und seltene nette Gespräche verzuckerten die Arbeit ein bisschen.
Manchmal kam dies sogar zusammen. Einmal hatten vier Jungs versucht, hinten einzusteigen, um der Fahrkartenkontrolle zu entkommen. Ich schaltete den Motor ab und sagte, wenn sie nicht nach vorne kommen, um die Tickets zu zeigen, bleiben wir solange stehen, bis der Wachdienst kommt. Als sie merkten, dass ich es ernst meinte, und ausstiegen, kam eine Frau nach vorne und bedankte sich. Positiv war die Sache auch deswegen, weil ich damit die Methode gefunden hatte, die ich künftig in solchen Fällen immer anwenden würde. Zuvor hatte ich meine Fahrerkabine verlassen und den Schwarzfahrer direkt konfrontiert. Damit begab ich mich aber in eine Position der Schwäche, was den Konflikt manchmal nur verschärfte und mich als nicht ernstzunehmen darstellte. Einmal war einer sogar so dreist, mir zu sagen, er verstünde mein schwedisch nicht. In der Situation sah ich nicht gut aus, und wertvolle Minuten gingen verloren. Manchmal war es aber auch lustig. Vor einiger Zeit kam ein Paar herein. Er ging mit seinem Hund vorbei, sie hielt ihr Ticket an die Maschine. Ich fragte, was mit seinem Ticket sei. Da lehnte sie sich zu mir vor und drückte mir fast ihren Ausschnitt in Gesicht und sagte „das ist mein Mann, der ist betrunken. Kannst du nicht eine Ausnahme machen?“ Sie war übrigens auch betrunken, und so eine Masche zieht bei mir nicht. Ich schätzte immer Ehrlichkeit: wenn jemand sagte, dass er kein Ticket habe, aber ein paar Stationen mitfahren wolle, dann ließ ich das durchgehen, auch wenn ich das strenggenommen nicht dürfte – schaute aber auch, dass sich die Gegenseite an den Deal hielt. Wer aber versuchte, sich an mir vorbeizustehlen oder mir irgendwelche Uralttickets vor die Nase hielt, hatte nicht viel zu erwarten. Letzten Endes war ich dafür verantwortlich, dass alle ein Ticket hatten. Im Lichte der weiter oben erwähnten Probleme mit meiner Firma ist es fast ein Witz, dass ich das so ernst nahm, obwohl die Wahrscheinlichkeit einer Fahrkartenkontrolle selbst in der Innenstadt annähernd Null ist – in den drei Jahren hatte ich vielleicht drei- oder viermal Kontrolleure an Bord.
Das Schlimme daran ist – auch ein Grund für die Kündigung – dass man letzten Endes den Glauben an das Gute im Menschen verliert. Wenn man gelernt hat, dass vom Kleinkind bis zum Greis jeder ein Schwarzfahrer sein kann, fällt es schwer, noch irgendjemandem zu glauben.
Im Fall mit dem betrunkenen Pärchen erklärte er mir jedenfalls, dass er seine Jacke zuhause liegen habe lassen, und da sei seine Karte drin. Ja, ja, deine Mudder, dachte ich nur. Ich ließ es nicht durchgehen, und wurde dafür von ihm als Idiot beschimpft. Ich hätte mich eher als Idiot gefühlt, wenn ich diese Nummer hätte durchgehen lassen. Ich nahm es mit Humor.
Im Grunde habe ich aber ein Bedürfnis, die Gegenseite zur Einsicht zu bringen. Nur gerade das ist selten möglich, wenn ein Konflikt entsteht. Wie er auch endet: das Ergebnis ist unbefriedigend. Solche Dinge lassen mich nicht kalt. Einmal habe ich fast einen Radfahrer umgefahren, weil ich beim Losfahren kurz unaufmerksam war. Dem vorangegangen war ein Disput mit einer Frau, die nicht einsah, dass ich schon wegen des Verletzungsrisikos die Vordertüren nicht mehr öffnen kann, wenn der Bus übervoll ist, und dass ich von vorne auch nicht sehen kann, wieviel Platz es hinten noch gibt.
Die wirklich erinnernswerten Momente: Schönes und Amüsantes
Die wirklich schönen Momente sind eigentlich diejenigen, die man bewahren müsste. Aber von denen verblassen leider nur allzuviele. In einer der letzten Fahrten ließ ich drei Frauen zwischen zwei Haltestellen aussteigen, weil sie im Gespräch mit mir doch zum Schluss gekommen waren, dass sie zu einem nahegelegenen Museum doch besser zu Fuß kämen. Sie waren sehr begeistert, aber hätte ich den Job weitergeführt, hätte ich das vermutlich schon längst wieder vergessen.. Herausragende Erlebnisse wie der Dank einer Norwegerin, deren Tasche ich im Bus wiedergefunden hatte, und die mich dafür umarmte, sind selten.
Jenseits der Kategorien Gut und Schlecht gibt es noch die grotesken Dinge, die immer mal wieder vorfielen. Unvergessen ist mir ein Vorfall beim Karolinska-Krankenhaus. Ein Pärchen stieg ein, und er war so betrunken, dass er es schon kaum in den Bus schaffte. Der Ausstieg klappte immerhin einigermaßen, aber gerade als ich losfahren wollte, hörte ich hinten etwas gegen den Bus schlagen. Der Mann war hinter dem Bus hingefallen und lag nun wie ein Käfer auf dem Rücken auf der Straße und strampelte mit allen Vieren. Er bekam es koordinatorisch nicht mehr hin, sich umzudrehen und auf den Bürgersteig zu „retten“. Ich fasste meine Fahrgäste grundsätzlich nicht an. Liegen lassen konnte ich ihn aber auch nicht. Also sagte ich, dass man dann wohl den Wachdienst oder die Polizei rufen müsse, wenn er nicht da weg kann. Seine Begleitung wandte sich aber nicht gegen mich oder versuchte, ihn aufzuheben. Sondern sie rief „Mensch, jetzt steh‘ doch auf. Der ruft sonst die Polizei.“ Und trat ihn. Es war ein höchst interessantes Schauspiel. Ich wartete etwas und rief dann die Zentrale ein, und sie sagten, ich könne weiterfahren – sie würden jemanden hinschicken. Bis dahin hatte er Mann endlich den Bürgersteig erklommen. Nun am rettenden Ufer gelandet war auch ich beruhigt. Offensichtlich ging auch sonst alles glatt. In der nächsten Runde waren sie nicht mehr da.
Leider wurden aber auch solche Geschichten in letzter Zeit selten. Ticketärgernisse schienen eine immer größere Rolle zu spielen. Auch musste ich mich der Realität stellen, dass Busfahrer nun nicht gerade eine Karriereoption ist. Manchmal denke ich mir auch, dass ich zu spät aufgehört habe und schon längst andere Dinge hätte machen können, die mich in meiner echten Karriere mehr voranbringen. Das werde ich aber wohl erst in fernerer Zukunft wirklich beurteilen können.
Dabei ist nicht einmal ausgeschlossen, dass es nicht doch ein Comeback gibt. Wenn ich mit meiner Doktorandenstelle fertig bin, kann es vielleicht eine Lücke geben, und bevor ich gar nichts mache, klemme ich mich gerne nochmal hinters Steuer – dann aber mit einem anderen Chef und vermutlich näher gelegen in Nacka und Värmdö. Wahrscheinlich ist das alles jedoch nicht, und das ist wohl auch gut so.
Auch für Randy Cohen geht es weiter. Er wurde zwar im Gegensatz zu mir gefeuert, aber bereitet schon eine neue Sendung bei NPR vor.
Nachtrag 8. April 2011: vorgestern habe ich meine Klamotten und sonstigen Dinge (Stempel etc.) abgegeben. Mein Chef war ausgenommen freundlich, bot mir auch sogleich an, mich wieder zu melden, wenn ich wieder fahren wollte, und wünschte mir alles Gute. Das relativiert zumindest die vorangegangenen Verstimmungen und macht den Abschluss weit versöhnlicher als gedacht.
Das Sahnehäubchen war aber, dass ich 10 Minuten später bei einem Kurzeinkauf bei LIDL Peter traf. Er ist auch Deutscher und hatte 2007 gemeinsam mit mir den Einführungskurs gemacht. Er fährt immer noch – mittlerweile sogar Vollzeit – und beförderte kürzlich Freunde von mir nach Skeppsholmen in der Linie 65.
Was für schöne Zufälle es doch gibt.