Die Juristerei ist nicht so einfach, auch wenn es bisweilen punktuell so erscheinen mag. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich hier begeistert darüber berichtet, dass das Bundesverfassungsgericht die bisherige Wahlrechtsregelung für Auslandsdeutsche als verfassungswidrig gekippt habe. Diese hatte vorgeschrieben, dass man mindestens drei Monate in Deutschland gelebt haben muss, um wählen zu dürfen. Das Gericht befand dieses Kriterium als untauglich.
Nun wäre die logische Schlussfolgerung, dass eben alle Deutsche bis auf weiteres wählen dürfen, wie es auch die Intention der Klägerinnen war. Dabei habe ich aber die technischen Details außer Acht gelassen. Folgender Satz aus §12 des Bundeswahlgesetzes ist nämlich laut dem Urteil nichtig:
Wahlberechtigt sind bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch diejenigen Deutschen im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes, die am Wahltag außerhalb der Bundesrepublik Deutschland leben, sofern sie nach dem 23. Mai 1949 und vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben.
Da nicht nur der Nebensatz ab „sofern“ verfassungswidrig ist, sondern der ganze Satz, gibt es derzeit keine Rechtsgrundlage für ein Wahlrecht der Auslandsdeutschen.
Also ist das Ergebnis des Klageerfolgs der beide Klägerinnen nicht, dass jetzt alle Auslandsdeutschen wählen dürfen, sondern dass fürs erste überhaupt keine Auslandsdeutschen wählen dürfen. Damit ist ihre Intention ins Gegenteil verkehrt. Das ist natürlich unschön, aber dürfte sich in Wohlgefallen auflösen, da der Bundestag das Wahlrecht wegen der Probleme mit den Überhangmandaten ohnehin schnellstens überarbeiten muss.
Hinweis 19. November 2012: die ganze Prämisse des Artikels beruht auf einer Fehlinterpretation des Urteils meinerseits. Auslandsdeutsche haben im Moment überhaupt kein Wahlrecht. Siehe mehr dazu hier.
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil gefällt, das für Auslandsdeutsche aber durchaus von Interesse sein dürfte.
Kurz gefasst sagt es folgendes aus: Die Vorschrift, dass Deutsche, die den Bundestag mitwählen dürfen, mindestens drei Monate ihres Lebens in Deutschland gelebt haben müssen, ist verfassungswidrig und damit nichtig.
Der Zugang Auslandsdeutscher zur Wahl ist seit jeher begrenzt. Früher durfte man nur für einen bestimmten Zeitraum nach Wegzug aus Deutschland wählen. Das waren einmal 10 Jahre. Später galten 25 Jahre, aber nur für Deutsche, die nicht in Ländern des Europarates (EU plus der ganze Rest Europas mit Ausnahme von Weißrussland) lebten. Mit der letzten Änderung machte man nun den vermeintlich ganz großen Wurf: einzige Anforderung war nun, auch wirklich einmal in Deutschland gelebt zu haben.
Doch genau diese Vorschrift landet jetzt im Papierkorb. Das ist auch richtig so, finde ich.
Ich kann den Bundestag ja verstehen, dass er die Regelung so traf. Auslandsdeutsche wählen nämlich in dem Wahlkreis, in dem sie zuletzt gemeldet waren. Da trifft es sich also gut, die drei Monate, die auch innerhalb Deutschlands bei der Erstellung der Wahllisten als Frist verwendet werden, einfach zum allgemeinen Standard zu erheben. Damit ist die Sache praktisch geregelt: jeder hat einen Wahlkreis und fügt sich als Briefwähler ins System ein. Zudem ist wenig Betrugspotenzial gegeben, denn die Abmeldung ist im betreffenden Wahlkreis aktenkundig.
Aber Praxistauglichkeit ist nunmal kein verfassungsrechtlich relevantes Argument. Das Grundgesetz gesteht allen Staatsbürgern über 18 das Wahlrecht zu. Ausnahmen im Detail müssen gut begründet sein und sind eng begrenzt.
Bislang war das entscheidende Argument offenbar, dass Wahlen den Willen des Volkes ausdrücken sollen. Hierfür muss der Wähler aber auch in der Lage sein, sich hinreichend zu informieren und an den Entwicklungen teilzuhaben. So argumentiert auch das Gericht, wobei es jedoch nicht erwähnt, dass gerade dieser Punkt dem technischen Wandel unterworfen ist. Dank Satellitenfernsehen und natürlich des Internets ist es nun möglich, genauso im Bilde zu sein als wäre man im Inland.
Ich finde das Argument allgemein fragwürdig. Wenn Ahnungslosigkeit und Gleichgültigkeit hinreichende Gründe für den Wahlausschluss sind, dann müsste man wohl weite Teile der deutschen Bevölkerung von der Wahl ausschließen. Nachvollziehbarer fände ich vielmehr eine Bindung an Deutschland – nur stellt sich da wieder die Frage, ob das verfassungsrechtlich relevant ist.
Gertrude Lübbe-Wolff, die einzige Richterin, die gegen das Urteil stimmte, bringt genau diese Punkte vor. Die Gesetzgebung folge zwar der kommunikationstechnischen Entwicklung, aber das sei gar nicht die Kernfrage. Sie spricht von einem Verantwortungszusammenhang, d.h. dass der Wähler auch die Bedeutung seiner Wahl einsieht und entsprechend handelt. Denn wer von den Ergebnissen seiner Wahlentscheidung nicht unmittelbar betroffen ist, wie das bei Auslandsdeutschen fraglos der Fall ist, wird eher leichtfertig wählen. Dass sie aber diesen Zusammenhang schon nach drei Monaten erfüllt sieht, ist doch fragwürdig.
Wie man es auch dreht und wendet: die Drei-Monats-Regel ist willkürlich. Sie kann die gewünschten Eigenschaften des Wählers weder sicherstellen, noch kann bei Nichterfüllung davon ausgegangen werden, dass diese nicht vorhanden sind.
Die Beschwerdeführerinnen sind dafür ein Musterbeispiel. Sie sind 1982 geboren und leben in Belgien nahe der belgisch-deutschen Grenze. Dort wird zumeist deutsch gesprochen. Sie haben also Bindungen und Einblick in das nahe Nachbarland. Dennoch dürfen sie nicht wählen. Ein Deutscher, der als Kleinkind Deutschland verlassen hat, in einem anderen Erdteil lebt und keinerlei Bindungen zu Deutschland hat, dürfte es. Das geht am Ziel der Regelung vollkommen vorbei.
Das Urteil ist daher auch gut und eindeutig. Bei der nächsten Wahl dürften also alle Auslandsdeutschen wählen. Damit wird eine neue Baustelle in Sachen Wahlrecht aufgemacht, denn wie die Wahlteilnahme praktisch umzusetzen ist, ist momentan unklar.
Es muss also baldmöglichst etwas passieren. Die Frage ist nun, was. Das Gericht war sehr deutlich, dass ein Aufenthalt in Deutschland kein Kriterium für den sogenannten Kommunikationszusammenhang ist. In jeder denkbaren künftigen Regelung wird es so eine Vorschrift nicht mehr geben können.
Es bleiben im Grunde nur zwei Möglichkeiten: entweder man gesteht jedem Auslandsdeutschen das Wahlrecht zu. Oder man hebt auf den Verantwortungszusammenhang, den die Richterin Lübbe-Wolff in ihrer abweichenden Meinung anführte, ab. Dies würde bedeuten, man müsste irgendwie testen, dass die Person eine Bindung zu Deutschland hat.
Es ist offenkundig, dass letzteres in der Praxis kaum machbar ist. Es wird also darauf hinauslaufen, dass einfach alle Schranken fallen werden. Das ist auch gut so, denke ich, denn der Schutz vor der verschwindend geringen Gruppe der ahnungs- und verantwortungslosen wählenden Auslandsdeutschen kann keine Priorität vor dem fundamentaleren Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts haben. Zudem sind die daraus erwachsenden Probleme mehr oder weniger konstruiert. Auslandsdeutsche, die nach 1999 im Ausland geboren wurden, geben die deutsche Staatsangehörigkeit nämlich nur dann an ihre Kinder weiter, wenn sie dies innerhalb eines Jahres anmelden oder die Kinder andernfalls staatenlos würden. Es ist also anzunehmen, dass die deutsche Staatsbürgerschaft nicht über mehrere Generationen im Ausland weiter gegeben wird, wenn keine Bindung mehr zum Land besteht. Damit wird es auch keine wuchernde Gruppe Auslandsdeutscher geben, die den Interessen Deutschlands zuwider Wahlen beeinflusst.
Für den Gesetzgeber stellt sich nun das Problem, dass hier eventuell neue Regelungen gefunden werden müssen, in welchem Wahlkreis die neuen Wähler denn nun wählen sollen und wie man Missbrauch verhindert. Die Abgeordneten, die derzeit schon mit den immer noch verfassungswidrigen Regelungen zu den Überhangmandaten zu kämpfen haben, werden sich über das neuerliche Urteil nicht gefreut haben.