Mit Interesse habe ich diesen Artikel auf Spiegel Online gelesen.
Da ist von der Oligarchie der Wikipedia zu lesen, bei der ein kleiner harter Kern definiert, was relevant ist und was nicht, was Wahrheit ist und was nicht. Von wegen Mitmachenzyklopädie für alle, bei der die Masse in gegenseitigem Wettstreit ein rundes Gesamtprodukt zum Wohle der Menschheit fabrizieren.
Der Artikel hat so recht – und doch so unrecht. Das wirklich interessante an ihm ist, dass er auf Eigenschaften herumreitet, die man gerne mit dem deutschen Kulturkreis verbindet: Besserwisserei, Engstirnigkeit. Dabei fördert er selbst eine Eigenschaft, die man ebenso mit Deutschen verbindet: die Unzufriedenheit.
Wikipedia ist in der Tat eine Oligarchie. Der richtig aktive Kern ist klein, der Neueinstieg für Benutzer ist schon wegen der unkomfortablen Bedienung und wegen des ausladenden Regelwerks eine Herausforderung.
Ist das schlecht? Vielleicht, wenn man es auf den internen Umgang herunterbricht. Wo Menschen zusammentreffen, geht es nicht immer friedlich zu. Es ist für mich die interessanteste Frage hierbei, ob nicht gerade die deutsche Kultur – oder vielmehr ihre Verbissenheit – dafür sorgt, dass die deutschsprachige Wikipedia ein so rigoroses Regelwerk hat. Vielleicht wäre der im Artikel beschriebene Vorfall, bei dem sich die Leute darüber bekriegten, ob ein Turm nun ein Fernsehturm ist oder nicht, in einer anderssprachigen Wikipedia schon deswegen nicht passiert, weil Diskussions- und Streitkultur in anderen Kulturkreisen dies gar nicht zuließen.
Auch das muss nicht schlecht sein, kann es aber. Viel schlimmer ist die Heuchelei, die in der Verurteilung dieser Kultur inne wohnt. Besserwisserei wird als etwas Verachtenswertes empfunden. Ist es nicht grotesk, dass eine Kultur, die Besserwisserei in ihren Zügen trägt, diese so vehement verurteilt? Selbst wenn man nicht über die Vorzüge und Nachteile dieser Eigenschaft sinniert, so bleibt doch einmal festzuhalten, dass einer Enzyklopädie eher ein Mangel an Besserwisserei schaden kann als dessen Übermaß.
Das Problem mit dem Tenor des Artikels – und das lässt sich auf allerlei andere Wikipedia-Kritik übertragen – ist, dass man nicht mit dem zufrieden sein kann, was man hat. Dies ist eine sehr deutsche Eigenschaft, möchte ich behaupten. Diese Haltung zeigt sich daran, dass der Artikel die Schwärmereien über die soziale Revolution anklingen lässt, die Wikipedia hätte sein können: unzählige Menschen aus aller Welt arbeiten zusammen, um einen Wissenspeicher zu schaffen. Alles ist neutral, alles gleicht sich aus, alles wird toll.
Daran gemessen kann die Realität nur scheitern, und sie tut es. Dies führt zu einer paradoxen Situation: Tausende von Menschen arbeiten in ihrer Freizeit für die Errichtung einer kostenlosen und für jedermann verfügbaren Enzyklopädie, die in der deutschen Version über 1 Million Artikel hat. Das wird aber nicht honoriert – im Gegenteil wird umso intensiver nach den Fehlern gesucht. Mir ist es auch schon selbst untergekommen, dass manche sich über die Qualität eines Artikels beschweren als hätten sie dafür gezahlt und müssten nun enttäuscht feststellen, dass die gelieferte Ware schadhaft ist.
Dass man eigentlich eher denen einen Vorwurf machen müsste, die nur konsumieren, geht dabei unter. Die Zeiten scheinen vergessen, als man im Internet zu bestimmten Themen nichts oder nur Fragmente fand, die noch weniger vertrauenswürdig waren.
Der Bogen wird hier noch weiter gespannt, indem nahegelegt wird, die Aktiven der Wikipedia diktierten die Wahrheit. Der Klang des ganzen ist, dass mittlerweile anscheinend die Wikipedia für die Wahrheit gehalten wird und deswegen denjenigen, die sie mit dieser Wahrheit bestücken, Macht ausüben. Das ist aber eher ein Armutszeugnis für die Informationgesellschaft an sich, denn dieser Vorwurf bedeutet letztendlich nichts anderes, als dass Wikipedia nun eine Institution ist, die für sich genommen die Wahrheit repräsentiert.
Man kann einem Projekt, das nie behauptet hat, fehlerfrei zu sein, nicht ankreiden, dass es nicht fehlerfrei ist. Noch weniger kann man ihm vorwerfen, dass sich die falschen Leute für es engagieren – denn offen ist es immer noch für alle.
Kritisieren kann man vielleicht die Strukturen. Ob der Artikel hier einen wirklichen Einblick gibt, sei aber dahingestellt.
„Man kann einem Projekt, das nie behauptet hat, fehlerfrei zu sein, ankreiden, dass es nicht fehlerfrei ist.“
Du meinst wohl „nicht ankreiden“?
Stimmt – danke!