Meine Eltern sind early adopter – zumindest im Falle des Videorecorders. Im Grunde auch meine Großeltern, denn auch sie hatten früh so ein Gerät. Nur hatten sie auf das vermeintlich zukunftsweisende Video 2000 gesetzt, das sich aber als nicht sonderlich langlebig erwies. Wir hingegen hatten mit einem erstklassigen VHS-Videorecorder auf das richtige Pferd gesetzt: zwar konnte der die Länge der Kassetten nicht automatisch lesen und kannte auch keine 300er-Kassetten, aber dafür konnte er – man lese und staune – Zweikanalton getrennt einspielen, womit ich schon frühzeitig in den Genuss von Filmen in Originalsprache kommen konnte.
De Facto war ich bald der einzige Nutzer des Geräts. Die ersten Kassetten jedoch waren mit Kinderfilmen bespielt, die wir im ZDF aufgenommen hatten. Einen dieser Filme hatten wir halb verpasst, so dass wir nur die letzten zwei Drittel hatten. Wir schauten ihn trotzdem unzählige Male.
Pippi in Taka-Tuka-Land – Kindheitserinnerungen mit ungeahntem Beigeschmack
Die Rede ist von Pippi in Taka-Tuka-Land, bei dem ich daher bis heute nicht so recht weiß, was vor der Szene mit dem selbstgebauten Flugzeug passiert. Ich muss auch ganz offen gestehen, dass die Filme meine einzigen Kindheitskontakte mit Astrid Lindgren waren. Bis heute habe ich – von Auszügen aus Ronja Räubertochter abgesehen – keines ihrer Bücher gelesen.
Trotzdem stellten Lindgrens Werke für mich eigentlich immer einen Meilenstein der Kinderliteratur dar. Als ich kürzlich Anatol Stefanowitschs Blogeinträge zu just diesen Büchern las, war ich daher auch etwas überrascht über einen Aspekt: just in Pippi in Taka-Tuka-Land (dem Buch, nicht dem Film) ist an zahlreichen Stellen von „Negern“ die Rede, was anscheinend synonym für ferne Kulturen in der Südsee stehen soll.
Kann man das Problem beheben?
Als die Bücher in den 1940er Jahren entstanden, war dies noch ein vollkommen legitimes Wort für Schwarze. Was aber nun tun, wenn man als vorlesendes Elternteil an solchen Stellen ankommt? Man kann versuchen, sich durch Ad-hoc-Übersetzungen zu retten, aber eine wirklich nachhaltige Lösung ist das wohl nicht.
Der naheliegendste Weg wäre freilich, die Übersetzung des Textes so anzupassen, dass die Wortwahl zeitgemäß ist. Der Oetinger-Verlag, der die Bücher Lindgrens im deutschen Sprachraum herausgebt, entschloss sich zu einer Neuausgabe mit entsprechender Wortwahl. Begründet wurde dies mit dem fraglos toleranten und offenen Wesen der Autorin, die bestimmt keine rassistischen Absichten gehabt hat. Daran kann man auch kaum zweifeln.
Stefanowitsch sieht dennoch ein Problem: es ist nicht nur eine Frage der Wortwahl, sondern auch eine des Inhalts. Der Text ist von einem unterschwelligen Rassismus durchzogen, den er moniert:
Das Problem […] ist tatsächlich gar nicht die Sprache. Es ist die Idee, dass es sinnvoll ist, Menschen nach ihrer Hautfarbe zu kategorisieren, dass man Menschen (mit bestimmten Hautfarben) besitzen kann, dass man Hautfarben mit der Einfärbung durch Schuhcreme vergleichen kann. Diese Ideen bleiben auch bei einer guten Übersetzung Teil des Textes.
Das lässt sich nicht beheben, außer man ist bereit, die Bücher umzuschreiben. Es hat auch keinen Zweck, eine kommentierte Ausgabe zu erstellen, denn die ist trotzdem nicht kindertauglicher. Stefanowitsch kommt in einem späteren Blogeintrag zum Schluss: die beste Art, damit umzugehen, ist wohl, Pippi in Rente zu schicken. Sie habe ihre Zeit gehabt, und die geht nun zu Ende.
Das Dilemma: richtig, aber sehr schade
An diesem Punkt muss ich sagen: es fällt mir schwer, da mitzugehen. Natürlich ist es nicht erstrebenswert, schon Kleinkindern irgendwelche Stereotypen einzutrichtern. Antirassismus ist ein so fundamentales Prinzip, dass er über jeden Zeitgeist hinaus unverrückbar bleibt. Auch wenn Kinder es nicht merken und vielleicht auch gar nicht sofort verstehen, erschiene es mir schon als Verharmlosung, wenn man über dieses Menschenbild einfach so hinwegsieht, weil die Geschichten so schön sind.
Trotzdem gefällt mir der Gedanke, man könne Literatur einfach durch etwas „moderneres“ austauschen, überhaupt nicht. Die Werke eines Kinderbuchautoren hätten dann nicht für sich irgendeinen literarischen Wert, sondern wären nur in einem gewissen kulturellen Kontext überhaupt von Relevanz. Entspricht das Werk nicht mehr den Werten der Gesellschaft, so hat das Werk ausgedient.
Stefanowitsch schreibt:
Es ist ja nicht so, als ob eine Welt ohne Pippi Langstrumpf unvorstellbar oder eine literarische Dystopie wäre.
Nein, unvorstellbar ist sie nicht. Aber auch ärmer, wie mir scheint, denn die Abenteuer Pippi Langstrumpfs sind auch Geschichten, die man nicht nach Belieben austauschen kann. Der Verzicht darauf, an bestimmten Stellen ein unerwünschtes Menschenbild zu vermitteln, wird an anderen Punkten durch den Verzicht auf ein positives Rollenbild – das Pippi Langstrumpf auch darstellt – und spannende, einzigartige Geschichten teuer erkauft.
Einen echten Kompromiss kann es leider nicht geben: man kann zumindest beim Originalbuch den schönen Kern nicht von den fauligen Verwachsungen trennen, ohne das Gesamtwerk zu beschädigen.
Vielleicht ist es in der Tat auch eine Generationenfrage, dass ich mir irgendwo wünsche, die Lindgren-Erzählungen seien zeitlos. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass Kinder nicht mehr diese Geschichten mit auf den Weg bekommen. Vermutlich wird aber genau dies passieren. Ich selbst habe noch Winnetou gelesen. Wieviele Kinder und Jugendliche tun dies heute noch?
Vielleicht sollte man es einfach so machen wie ich: die Filme gucken und andere Bücher lesen, denn die Pippi-Filme sind meines Wissens nicht „kontaminiert“.
Wenn es einmal so weit sein wird, werde ich mich vielleicht auch fragen, ob die Pippi-Bücher etwas für die Kinder sind. Bis dahin ist aber noch etwas Zeit.