Eurovision

In Telefonaten mit Deutschland wurde mir in den letzten Tagen viel von der Osteuropa-Connection geklagt, die da den Eurovision Song Contest entschieden haben soll. Ich möchte diese Klagen nicht unterstützen – ein paar Gedanken zum Thema:

  • Das BILDblog bemerkt richtig, dass Serbien auch ohne Schützenhilfe aus dem Osten gewonnen hätte. Die Rechnung dort belegt das recht deutlich.
  • Die Liste bringt auch das Auswandererargument ins Wanken – so viele Ukrainer und Bulgaren wohnen nicht im Westen, dass es dafür reicht. In Sachen Türkei ist das Argument sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Deutschland gibt ja schon seit Jahren Spitzenpunktzahlen an die Türkei, egal wie gut oder schlecht das Lied ist. Allerdings muss man auch die Deutschen da in die Pflicht nehmen. Wenn 1,76 Millionen Türken das Votum der restlichen ca. 80 Millionen Einwohner Deutschlands überstimmen können, dann sind die letzteren selbst schuld.
  • Die TED-Demokratie ist eigentlich keine – sie ist stark verzerrt, aber in vieler Hinsicht auch ehrlicher als eine Jury. Eine solche wäre nämlich genauso fragwürdig, da über ihre Besetzung irgendwelche Rundfunkgranden entscheiden dürften. Auf die jetzige Art kommt man den Leuten doch schon etwas näher.
  • Wir sind eigentlich schon ein ziemlich arroganter Haufen – die Schweden wie die Deutschen. Wir interessieren uns im Normalfall nicht dafür, was in Osteuropa passiert, und wir gehen davon aus, dass die Künstler von dort von vorneherein schonmal unbekannt sein müssen. Roger Cicero war ja immerhin schonmal eine nationale Größe, aber eben nirgendwo sonst. Die Serbin Marija ŠERIFOVIĆ ist bei sich zuhause anscheinend eine echte Hausnummer und eben auch in den Nachbarländern bekannt. Für den ach so fürchterlichen Ukrainer gilt dasselbe. Wann haben wir das letzte Mal jemanden hingeschickt, den außerhalb Deutschland jemand kennt?
  • In Schweden hat man notorisch zu hohe Erwartungen, weil man für die nationale Vorauswahl so einen Riesenaufwand macht. In Deutschland hingegen zahlt man die Zeche und ist noch nicht einmal bereit, ein vernünftiges Auswahlverfahren zu schaffen – trotz vorhandener föderaler Strukturen und inspirierender Vorbilder á la Stefan Raabs Bundesvision Song Contest. Stattdessen jedes Jahr Party auf der Reeperbahn – auch dem NDR kann man durchaus Arroganz vorwerfen, die Veranstaltung norddeutsch zu besetzen und damit die zahlreichen anderen Zentren der Republik außer Acht zu lassen. Miese Resultate und geringes Interesse sind die Folge. Bei Guildo war das noch etwas anders. Außerdem schaue man sich doch mal nur die Ergebnisse der letzten 15 Jahre an:
    • 1995: Stone & Stone kriegen nur einen Punkt und fahren das mieseste Ergebnis überhaupt ein.
    • 1996: Leon mit Blauer Planet scheiterte an einer vorgeschalteten Zwischenrunde, weil der Titel zu schlecht war. Daraufhin hat man die Regel eingeführt, dass wir immer im Finale sind – und damit auch geschickt davon abgelenkt, dass man zuletzt einfach nur noch unbekannten Schrott ins Rennen geschickt hatte.
    • 1997: Deutschland schneidet mit „Zeit“ von Bianca Shomberg wiederum miserabel auf Platz 18 ab.
    • 1998: Ein Komplott aus Guildo Horn und Stefan Raab bricht in das wohlbehütete Paralleluniversium ESC ein und macht das Dauerabo von Ralf Siegel kaputt. Deutschland kriegt einen prächtigen 7. Platz und ganz Deutschland interessiert sich plötzlich wieder für den Wettbewerb. Die Veranstalter können natürlich nichts dafür – außer, dass sie Guildo Horn haben teilnehmen lassen.
    • 1999-2003: in schönem Wechsel gewinnen Siegel und seine Gegner. Die guten Ergebnisse halten sich, bis auch Europa genug von Siegel hat und Corinna May im Jahr 2002 mit einem 21. Platz nach Hause schickt. Zwar kommt Lou das Jahr darauf noch einmal ganz gut weg, aber beim NDR macht man sich Gedanken, wie man die Sache noch interessanter machen könnte.
    • 2004: Stefan Raab eilt zur Rettung und schickt Max Mutzke ins Rennen, der auch recht erfolgreich ist. Das neue Regelwerk, nachdem man Chartplatzierungen haben muss für die Teilnahme, scheint zu funktionieren.
    • 2005: Gracia hat manipuliert und gewinnt den nationalen Vorausscheid, aber erreicht beim ESC nur den 24. Platz
    • 2006-heute: Um jede Peinlichkeit und echte Einflussnahme auf den Teilnehmer zu vermeiden, wird das Regelwerk gestrafft. Der Erfolg bleibt trotzdem oder gerade deswegen aus. 2006 war es ganz schlimm – wenn man die Wahl zwischen Vicky Leandros, Thomas Anders und einer Kombo von Olli Dittrich hat, muss man ja wohl oder übel letztere nehmen.

    Alles in allem also ein höchst absurdes Spektakel, das uns da der NDR jedes Jahr präsentiert.

  • Manche meinen ja, die Musik wäre dieses Jahr schlecht gewesen. Das stimmt nicht. In den letzten Jahren haben die ganzen Balkanländer immer irgendwelche Volksmusikmenschen zum Wettbewerb geschickt. Will man ihnen jetzt etwa vorwerfen, dass sie die Zeichen der Zeit erkannt haben und moderne Musik einbringen?
  • Wer jetzt über die Ostmafia schimpft, sollte sich auch mal die Frage stellen, wo denn die ganzen osteuropäischen Länder letztes Jahr waren. Die Antwort ist: sie waren fast alle dabei. Dennoch hat Lordi klar gewonnen.
  • Die einzige Wahrheit über diesen Wettbewerb ist: er ist unberechenbar. Die Abstimmungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Meinungsbilder aus den verschiedenen Ländern häufig gleichförmig sind. Ein Siegertitel zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er viele 12-Punkte-Wertungen geholt hat, sondern dadurch, dass er fast von überall Punkte bekommen hat. Um zu gewinnen, muss man also einen Titel haben, der in fast allen Ländern zumindest ein paar Punkte erhält. Der serbische Titel war so einer.

Trotz allem Mäkeln: der ESC bleibt eine außergewöhnliche europäische Institution, die jenseits der EU existiert und jedes Jahr hunderte von Millionen Zuschauer interessiert. Es gibt weltweit nichts vergleichbares – und es ist ohne Frage ein Stück gelebtes Europa.

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