Das schwedische Du (und sein vermeintlicher Niedergang)

Werden noch gesiezt: König Carl XVI. Gustaf und seine Frau Silvia (Foto: Holger Motzkau 2010, Wikipedia/Wikimedia Commons, CC-BY-SA 3.0)

Gerade kam mir dieser Artikel in der FAZ unter. Dort schreibt Sebastian Balzter darüber, dass die schwedische formelle Anrede, vergleichbar mit dem deutschen Siezen, wieder etwas in Mode käme.

Er beginnt mit einem Klischee, das aber meiner Erfahrung nach stimmt: viele Deutsche, die in Schweden Urlaub machen, finden es so schön, unkompliziert und freundlich, dass man sich in Schweden gemeinhin duzt. Mit Ausnahme der königlichen Familie gilt das Duzen hier schließlich für alle.

Aber dann:

Seit einigen Jahren aber greift unter den jungen Schweden eine Unsicherheit um sich, die diese positiven Vorurteile in Frage stellt. Gesiezt wird zwar auch weiterhin niemand zwischen Malmö und Kiruna. Das Nizen aber macht dem Duzen zusehends Konkurrenz. „Wenn wir darüber reden, gibt es immer Streit“, berichtet die Stilratgeberin Magdalena Ribbing, die in der Tageszeitung „Dagens Nyheter“ eine Kolumne über gute Manieren schreibt.

Vor allem im Geschäftsleben, in Restaurants und Kaufhäusern, gebrauchen nach ihrer Erfahrung jüngere Angestellte gegenüber älteren Kunden oder Gästen zunehmend die altertümliche Anredeform „Ni“. Dazu werden sie bisweilen sogar von ihren Vorgesetzten aufgefordert.

Ich war doch einigermaßen verwirrt – das „Ni“ hielt ich für eine vollkommen abgeschaffte Anrede, und im Alltag ist sie mir in den letzten Jahren noch nicht bewusst begegnet. Allerdings bin ich wohl noch nicht alt genug, dass man mir so begegnen würde.

Nach einer Recherchen ist mir der Begriff des „Ny-Niandet“ („Neusiezen“) untergekommen. Besonders im Dienstleistungsbereich sei das so. In der Kolumne der erwähnten Magdalena Ribbing ging es auch schon öfters darum. Soweit stimmt das also.

Jedoch denke ich, dass Balzter ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen ist. Eine „Debatte“, wie sie die FAZ erkannt haben will, würde ich das nicht nennen. Dahingehende Blogeinträge sind teilweise über 5 Jahre alt, und für mich ist nicht ersichtlich, was nun plötzlich eine „Unsicherheit“ hervorrufen sollte. Es mag sein, dass der Sprachrat, der im Artikel erwähnt, irgendwann langsam tätig werden musste und das vielleicht irgendeine nachrichtenrelevante Rolle spielt – aber bei dem wurde ich auch nicht fündig.

Es ist aus meiner Sicht eine Randerscheinung, ein vorübergehender Trend – da hat der Artikel wiederum recht – aber keine Sache, die an den Fundamenten rüttelt, die Ende der 1960er Jahre gelegt wurden. Es fehlt schlicht der Neuigkeitswert, und auch der gesellschaftliche Disput, der da suggeriert wird.

Ein Punkt stellt der Artikel auch leider nicht richtig, was sehr bedauerlich ist. Ich konnte immer nur mit Kopfschütteln auf die deutsche Interpretation des schwedischen Du reagieren. Die Begeisterung der Deutschen für diesen schwedischen Brauch rührt beruht meines Erachtens nämlich auf einem grundlegenden Missverständnis.

Das deutsche Sie drückt zwar auch Respekt gegenüber Mitmenschen aus, insbesondere älteren. Jedoch ist ein weiterer wichtiger Aspekt die Schaffung eines Abstands zwischen einem selbst und der gesiezten Person. Das Sie drückt aus, dass man der angesprochenen Person nicht nahesteht. Das Du hat hingegen einen jovialen Charakter und findet bei einer Begegnung auf Augenhöhe zwischen jüngeren Menschen Anwendung.

Die Deutschen, die sich über das schwedische Du so freuen, glauben, es sei dasselbe wie das Deutsche. Ist es nicht. Wenn buchstäblich jeder mit Du angesprochen wird, dann hat es keine Bedeutung mehr. Der Polizist spricht einen Mörder bei der Verhaftung genauso mit Du an wie die Braut ihren Ehemann bei den Flitterwochen. Es ist vollkommen wertungsneutral. Wenn man also in Schweden geduzt wird, dann ist das vielleicht ein Bekenntnis zu geschwundenen Klassenunterschieden, aber es wohnt dem im Prinzip nichts joviales oder freundliches inne. Es geht nicht darum, eine Nähe zu schaffen, und wenn man glaubt, dem wäre so, dann ist das die Interpretation des Empfängers, nicht die Absicht des Senders.

Im Umkehrschluss würde ich auch davon ausgehen, dass das schwedische „Ni“ – übrigens die zweite Person Plural, nicht die dritte wie im Deutschen – eine prinzipiell eher untertänige und respektvolle Haltung transportiert. Ich möchte bezweifeln, dass einem schwedischen Polizisten einfallen würde, einen Mordverdächtigen mit Ni anzusprechen, denn Respekt hat er für den sicherlich nicht.

Das Problem, das einige der verlinkten Webseiten ausdrücken, ist, dass das Ni von älteren Menschen auch falsch als kränkend empfunden werden kann – wohl in dem Sinne, dass junge Menschen ironisch Ni verwenden und sich der angesprochene veralbert fühlt. Interessanterweise hat sich daher noch eine weitere Form herausgebildet, nämlich die Anrede in der dritten Person Singular mit Titeln. Das habe ich schon bei Interviews mit dem König gesehen, dem dann statt z.B. statt der dann statt z.B.

Was sagen Sie dazu?

gefragt wurde

Was sagt der König dazu?

Klingt seltsam, aber hat sich anscheinend etabliert.

Jenseits aller Missverständnisse und Feinheiten muss aber auch eines gesagt werden: die schwedische Lösung ist mir deutlich lieber als die deutsche. Dieses Herumrätseln, ob man nun schon Du sagen darf, weil man es mal angeboten bekommen hat, oder eben nicht, fand ich immer schwierig. Man hat im Schwedischen immer eine Lösung, ohne überlegen zu müssen. Zudem finde ich diese Konsequenz, mit der man versucht hat, eine gleichgestellte Gesellschaft zu erreichen, beachtlich. Zwar wird eine Gesellschaft dadurch nicht automatisch gleicher, aber es kann als Symbol durchaus dienen. Ich sehe auch nicht, wieso man das in Deutschland nicht könnte. Immerhin hat man es geschafft, das Fräulein abzuschaffen. Dann sollte es doch auch möglich sein, das Siezen loszuwerden.

Update 5.2.: Asche auf mein schnellschreibendes Haupt. Der letzte Aspekt des missverstandenen Du seitens der Deutschen wird in dem Artikel am Ende durchaus noch angesprochen.

3 Gedanken zu „Das schwedische Du (und sein vermeintlicher Niedergang)“

  1. Ach wie schön, hier also auch! Ich habe den Artikel auch schon verlinkt und finde Deine Perspektive ergänzend dazu sehr interessant. Mir war die Verwendung des „Ni“ übrigens bekannt, mein Partner verwendet es des öfteren im – ja, genau richtig – Dienstleistungsbereich. Allerdings auch nur, wenn er die so angesprochenen Personen als des „Ni“ würdig erachtet. Seiner Aussage nach sind die Reaktionen darauf meist ausgesprochen positiv, offensichtlich wird die von ihm gesendete Botschaft richtig gedeutet und dann auch geschätzt. Auch hat er mir bisher nicht von negativen Reaktionen älterer Menschen erzählt, aber ich vermute, dass er es wirklich auf sehr charmante, „schwedisch höfliche“ Weise einzusetzen weiß. Dabei ist mein Mann übrigens bei weitem kein Jugendlicher. Man darf in getrost als „middle aged“ bezeichnen … ;O)

    1. Peinlich – ich habe vor lauter Schreiben nicht wirklich beachtet, dass in dem Artikel in der FAZ auf das missverstandene Du seitens der Deutschen eingegangen wird. Ich wollte es schon lange mal erzählen, aber in dem Kontext war das natürlich etwas unnötig.

      Ich stimme den Ausführungen in Deinem Blog (http://schwedische-gardinen.blogspot.com/2012/02/die-schweden-und-die-hoflichkeit.html) in jedem Fall zu. Die Mimik etc. zu interpretieren ist nicht unbedingt die Stärke der Deutschen. Viel gewonnen wäre freilich schon, wenn man ein „Du“ in der Anrede nicht gleich als Akt der Herzlichkeit interpretieren würde.

      Auf der anderen Seite ist es das nicht nur eine Interpretationsschwäche. Wer sich für Inga-Lindström-Filme erwärmen kann, den interessiert womöglich gar nicht so sehr, wie Schweden wirklich ist, sondern vielmehr, sein eigenes Schwedenbild zu bestätigen.

  2. Ich ging etwas vorinformiert nach Schweden. Ich fand es für die Erstkommunikation mit dem Du sehr viel einfacher, weil es viele Irritationen auslöscht. Es hat mich aber nicht dazu verleitet, der Person mental näher zu kommen als per Ni. Es entstand lediglich eine wärmere, menschlichere Grundstimmung – eine gleichgestellte. Wobei wärmer…hängt wieder davon ab, auf welche Menschen in welcher Stimmung trifft. Da gibt es ja auch genug Grießgrämer.

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