Ich lag wie immer vollkommen falsch – nicht die lettischen Piraten haben gewonnen, und auch nicht der grenzdebile Spanier. Es war der unscheinbare Russe mit dem wildgewordenen Schlittschuhläufer.
Balkan-Connection: Jein
Wie im Vorjahr ist zu beobachten gewesen: die Sympathiepunkte spielen eine große Rolle. So hat Irland mittlerweile eine nicht unerhebliche polnische Minderheit, die natürlich konsequent für Polen stimmt, was letztendlich für die 12 Punkte sorgt. Dennoch ist es nicht die alleinige Komponente – wie man schon daran sieht, dass Deutschland dieses Mal nicht seine 12 Punkte an die Türkei vergab.
Der Grund des Erfolgs liegt vielmehr darin, durchweg zu punkten – Russland hat nur von wenigen Ländern keine Punkte erhalten, und das macht es letztendlich aus. Sicherlich bildeten die ganzen ehemaligen Satellitenstaaten eine gute Basis für Russlands Sieg. Das aber reicht nicht aus für eine Führung von 42 Punkten.
Das schwedische Debakel
Zum Treppenwitz ist der Auftritt von Charlotte Perrelli verkommen. Wie sich nämlich mittlerweile herausgestellt hat, ist sie überhaupt nur dank einer Sonderregelung ins Finale gekommen. Eine Jury bestimmte nämlich ihren Favoriten, und wenn dieser nicht in den oberen Neun auftauchte, wurde er automatisch auf Platz 10 gehoben – egal, wo er im Televote gelandet war. Perrelli hatte eigentlich nur den 12. Platz erreicht, gelangte so aber noch ins Finale. Ironischerweise hatte sie auch im nationalen Vorentscheid nur dank der Juries ihre Konkurrentin Sanna Nielsen überholt. So kam sie also mit doppelter Unterstützung von Fachleuten ins Finale, die wohl eher an die Charts dachten als an das Fernsehvolk, das schließlich auch weniger charttaugliche Altersgruppen enthält.
Gestern hatte sich offenbar die Kritik an ihrem Make-Up zu Herzen genommen und weit weniger dick aufgetragen. Das half aber alles nichts – eine der schlechtesten Platzierungen der schwedischen ESC-Geschichte kam heraus.
Womit man auch wieder ein schönes Lehrstück hätte: Publikumsgeschmack und Jury stehen oft konträr zueinander. All die musikalische Qualität, die mit Hilfe einer Jury vermeintlich gesichert werden soll, ist letztendlich wertlos, wenn die Mehrheit der Leute dem nicht zustimmen. Eine Jury als Komponente einzubauen ist daher mehr als fragwürdig.
Ein guter Rat an den NDR
BILD fragt heute morgen „Mag uns keiner? Oder sind wir zu schlecht?“ – ganz klar letzteres. Antipathien scheinen keine große Rolle mehr zu spielen. Denn gerade die Balkan-Connection zeigt, dass sich Länder, die sich im realen Leben spinnefeind sind, munter einander die Punkte zuschieben. Besonderes Beispiel: Russland gab Georgien 7 Punkte, obwohl Georgier in den russischen Medien zeitweise einer regelrechten Hetzjagd ausgesetzt waren.
Die No Angels waren also zu schlecht. Aus meiner Sicht sangen sie zwar harmonischer als im Vorentscheid, aber als Sandy Mölling (die blonde) zu ihrem Abschlussgeheule kam, wusste ich, dass das nichts werden kann. Dazu war die Bühnenshow sehr lahm – mir kamen die vier Mädels einfach etwas deplatziert vor. Die vier hatten weniger Präsenz als der kroatische Opa alleine.
Darum einige gute Ratschläge an den NDR:
- Bessere PR-Arbeit: Der ESC wird trotz der nicht unerheblichen Kosten für Deutschland von der deutschen Öffentlichkeit weitestgehend ignoriert. Vielleicht sollte man den Gracia-Komplex endlich überwinden und eine Zusammenarbeit mit einem gewissen Herrn Raab anstreben. Die ARD hat Dutzende Fernsehprogramme und Rundfunkwellen. Trotzdem gelingt es nicht, den Leuten diesen Wettbewerb nahezubringen. Der nationale Vorentscheid ist seit Jahren nur noch eine Alibi-Veranstaltung, um aus einer Minimalauswahl einen mäßig überzeugenden Titel zu wählen.
- Größere Vorentscheide: In San Marino kann man einen Mann mit einer Tröte auf den Marktplatz stellen, und schon ist die frohe Kunde verbreitet. In Deutschland genügt das nicht, und eine einmalige Show im Februar ist auch nicht genug, um den Leuten auch nur das geringste Interesse am ESC zu entlocken. Jedes Jahr die Reeperbahn zu beschallen macht es auch nicht besser, denn die ist von Köln, Berlin und München schon zu weit weg. Der Vorausscheid hier in Schweden ist seit 2002 auf 6 Wochen verteilt, an denen 4 Vorrunden, eine „zweite Chance“ und ein Finale an 6 verschiedenen Orten im Land stattfinden – man mag davon halten, was man will, aber die Leute wissen danach bescheid, wer antritt und haben auch das Gefühl, mitentschieden zu haben. Der Bundesvision Song Contest hat zwar einige erhebliche Schwächen, weil für manche Länder mangels indigener Teilnahmewilliger irgendwelche Ersatzleute ins Rennen geschickt werden, aber wenn sich die anderen ARD-Anstalten eine Art Halbfinale leisten würden, könnte man die Veranstaltung z.B. auch nach München, Stuttgart, Frankfurt, Saarbrücken, Köln, Bremen, Berlin und Leipzig tragen. Das würde die Republik sicherlich mehr begeistern.
- Breitere Musikauswahl: seit die Vorentscheide so heruntergekürzt wurden, ist nur noch schwer nachvollziehen, nach welchen Kriterien die Lieder ausgewählt werden.
- Sich dem Halbfinale stellen: sicherlich zahlen die Big Four viel Geld und haben viel Publikum, aber die Big-Four-Regel ist letztendlich ein Rohrkrepierer. Sich einem Halbfinale zu stellen heißt auch, eine Vorauswahl zu bestehen. Die Titel, die sich fürs Finale qualifizieren mussten, sind schon einmal auf Herz und Nieren geprüft. In einem Wettbewerb, der unkalkulierbar ist, ist das ein wichtiger Indikator. Es ist ja nicht verwunderlich, dass Deutschlands Mitletzter Polen im Halbfinale als Zehnter gerade so den Einzug ins Finale schaffte. Eine weiteres wichtiges Argument für eine Teilnahme am Halbfinale sollte auch nicht vergessen werden: ein ESC-Halbfinale ist besser als jeder PR-Event. Nirgendwo sonst erhält man die Gelegenheit, vor über 100 Millionen Zuschauern den Song vorzuführen, den man ins Rennen schickt. Das ist extrem wertvoll. Nicht am Halbfinale teilzunehmen heißt nämlich auch, die Zuschauer gegen die vorausgelesene Konkurrenz innerhalb von 3 Minuten überzeugen zu müssen, während die anderen zuvor wenigstens einen flüchtigen Eindruck hinterlassen konnten.
Das sind alles keine Siegesgarantien, aber schlimmer als in den letzten drei Jahren kann es eigentlich nicht mehr werden.
2 Gedanken zu „How not to win the Eurovision Song Contest“