Alles Schall und Rauch oder wie man sich die Medienwelt zurechtbiegt

Google Reader ist eine praktische Erfindung: man abonniert Blogs und ist so über alles, was dort publiziert wird, informiert. Man sagt der Blogosphäre nach, dass sie den Bürgerjournalismus zum Durchbruch verholfen hat. Nicht nur etablierte Medien finden Gehör, sondern auch alternative Publikationen, so dass kein Meinungsmonopol entstehen kann. Das klingt in der Theorie gut, aber bedeutet auch, dass man mit allen Gewächsen dieser Möglichkeiten leben muss.

Ein solches ist „Alles Schall und Rauch“. Man könnte es als Zentralorgan der Verschwörungstheorie bezeichnen und läge damit wohl gar nicht mal so falsch. Die Themenpalette ist im Wesentlichen USA, Israel, 9/11 was an inside job, Israel, Bilderberg regiert die Welt, Palästina, Welt geht unter, 9/11, Klimawandel ist Blödsinn, usw. usf.

Also nicht gerade meine Baustelle, um es mal milde auszudrücken. Aber man soll ja auch Offenheit bewahren, und dazwischen finden sich auch immer mal wieder interessante Dinge, wie z.B. eine Liveübertragung von den Protesten gegen Stuttgart 21.

Traurig wird die Geschichte aber irgendwo dann, wenn die vermeintlichen Aufklärer an ihren eigenen Standards scheitern. Damit meine ich nicht, dass diese Leute gar keine unabhängige 9/11-Untersuchung wollen, sondern eine, die genau das sagt, was sie ohnehin zu wissen glauben.

Ich meine damit, dass in dem Milieu so ziemlich alles, was durch etablierte Medien verbreitet wird, von vorneherein suspekt, um nicht zu sagen falsch, ist. Wenn die Medien aber ausnahmsweise mal das berichten, was gerne gehört wird, ist es anscheinend die pure Wahrheit.

Gestern erschien so eine Geschichte: Krebs ist eine moderne Krankheit.

Die Quelle des Blogeintrags ist nicht genannt, aber man braucht nicht lange nach ihr zu suchen. Es ist dieser Artikel der zweitgrößten britischen Tageszeitung Daily Mail. Da sagen die zwei Wissenschaftler Rosalie David und Michael Zimmerman, derzeit tätig an der Universität Manchester, mit einer bemerkenswerten Deutlichkeit: Krebs ist das Werk des Menschen, ein Produkt der Industriegesellschaft.

Bemerkenswert deswegen, weil mir der Artikel der beiden vorliegt, den sie diesen Monat in Nature Reviews Cancer veröffentlicht haben, dem Ableger der höchst angesehenen Zeitschrift Nature für die Krebsforschung.

Der Titel des Artikels von David und Zimmerman lautet:

Cancer: an old disease, a new disease or something in between?

zu deutsch:

Krebs: eine alte Krankheit, eine neue Krankheit oder etwas dazwischen?

Bei der Fragestellung bleibt es über weite Strecken auch. Der Artikel stellt eine Art Zusammenfassung des Forschungsstandes dar: die Seltenheit von Krebs in Fossilien und Mumien mit einem Durchgang verschiedener Erklärungsansätze und einer Reihe von etablierten Fakten.

Nur: die Behauptung, Krebs sei „purely man-made“, sucht man vergebens.

Stattdessen liest man beispielsweise

Im Allgemeinen unterstützt die Seltenheit von Krebs in den ältesten sterblichen Überresten die Theorie, dass das Sterbealter, die Ernäherung und Umweltfaktoren die Häufigkeit von Krebs in Menschen erheblich beeinflussen. Allerdings gehören die Einschränkungen der Diagnosemethoden, die von frühen Forschern verwendet wurden, und die unzureichende Datengrundlage zur Ermittlung einer zuverlässigen Krebshäufigkeit zu den andere möglichen Faktoren zur Erklärung dieses Fehlens von Beweisen.
(Generally, the scarcity of cancer in the earliest remains supports the theory that age at death, diet and environmental factors substantially influence the incidence of cancer in humans. However, other possible factors to explain this lack of evidence include the limitations of the diagnostic methods used by early investigators to study these remains, and the insufficiency of data to provide a reliable rate of cancer incidence.)

oder

Es muss auch daran erinnert werden, dass in modernen Gesellschaften Knochentumore vorwiegend die Jungen betreffen, so dass ein ähnliches Muster in antiken Gesellschaften zu erwarten wäre. Deshalb könnte die Seltenheit von Tumoren in antiken Gesellschaften ein Ergebnis anderer Faktoren als der Lebenserwartung sein.
(It must also be remembered that, in modern populations, tumours arising in bone primarily affect the young, so a similar pattern would be expected in ancient populations. Therefore, the rarity of tumours in ancient populations could be a result of factors other than life expectancy.)

In der Zusammenfassung heißt es schlicht

Es ist zu hoffen, dass Forschung in der Paläopathologie zur Aufklärung der Krankheitsentstehung von Krebs beitragen werden. Die Veröffentlichung der ersten histologischen Krebsdiagnose in einer ägyptischen Mumie ist ein Schritt auf diesem Weg. Trotz der Tatsache, dass andere Erklärungen wie die unzureichenden Techniken zur Krankheitsdiagnose ausgeschlossen werden können, legen die verfügbaren paläopathologischen und literarischen Beweise die Seltenheit von bösartigen Tumoren in der Antike nahe. Dies könnte mit der Verbreitung von Karzinogenen in modernen Gesellschaften zusammenhängen.
(It is hoped that research in palaeopath­ology will contribute to the elucidation of the pathogenesis of cancer. The publication of the first histological diagnosis of cancer in an Egyptian mummy is one step along the way. Despite the fact that other explanations, such as inadequate techniques of disease diagnosis, cannot be ruled out, the rarity of malignancies in antiquity is strongly suggested by the available palaeopathological and literary evidence. This might be related to the prevalence of carcinogens in modern societies.)

Es gibt also allerhand, was darauf hindeutet, aber die Forscher sind weit davon entfernt, ein abschließendes Urteil zu fällen.

Wie man das eben als Wissenschaftler sagt, der seine Datenlage einer kritischen Betrachtung unterzieht und auf deren Basis Schlüsse zieht. Was da in der Daily Mail steht, ist also entweder in einem Anfall von Sensationslust der beiden Wissenschaftler entstanden, oder Fiona Macrae von der Zeitung gingen einfach die Pferde durch beim Schreiben – beides nicht gerade schmeichelhaft für die Zeitung.

Soweit hat aber weder der Schreiber bei „Alles Schall und Rauch“ gegraben noch irgendeiner der Kommentatoren zum Artikel. Der Nature-Artikel ist zwar nur für Abonnenten (z.B. über Universitätsbibliotheken) in voller Länge erhältlich, aber auch am Abstract hätte man erkennen können, dass der Fall keineswegs so sonnenklar ist. Also habe ich kommentiert, um darauf hinzuweisen. Weil es in den Spielregeln zu den Kommentaren heißt, dass auch mal etwas verloren geht, habe ich den Kommentar später noch einmal neu formuliert abgeschickt, als der erste nicht erschien.

Zur Stunde ist keiner der beiden veröffentlicht. Da in der Zwischenzeit einige andere erschienen sind, ist wohl davon auszugehen, dass da nichts mehr kommen wird.
Im Kopf der Seite heißt es:

Es ist die Pflicht eines jeden Menschen immer gut informiert zu sein, damit man die richtigen Entscheidungen treffen kann

Offenkundig sind aber nur bestimmte Informationen genehm.