Wie Schweden vermeintlich seine Bildungskosten den Nachbarn aufbrummt

Die ZEIT gilt ja als ein sehr renommiertes Blatt. Zurecht, soweit ich das sehe. Das schließt aber keine Ausreißer nach unten aus. Ein solcher wurde mir von Jan zugetragen (Danke!).

In Zeit Campus Ausgabe 04/2010 findet sich dieser Bericht mit dem Titel „Schweden-Export“, der darlegen soll, wie dreist der schwedische Staat sich studienwilliger Einwohner entledigt, indem er sie ins Ausland schickt. Das spare nämlich Geld, weil die Zeche schließlich das jeweilige Gastland zahlt.

Nach einer nebulösen Einleitung („hatte die dortige Regierung schon vor Jahrzehnten eine Idee“) kommen dann die vermeintlichen Fakten. 300 Euro pro Monat bekämen die Studenten geschenkt, darüber hinaus „über 600 Euro“ als „zinsloses Darlehen“.

Und jetzt kommt der Skandal:

Die Staaten, in denen sie studieren, finanzieren den Studienplatz, bekommen aber keine Absolventen, die mit ihren Steuern die Investition zurückzahlen. Kaum einer der Schweden möchte später in Deutschland leben. Auch Johannes Hallquist nicht, der mit dem Stipendium sein Medizinstudium in Gießen finanzierte und heute in Schweden als Arzt arbeitet. Für ihn ist die Motivation hinter dem Förderprogramm vollkommen klar: »Der schwedische Staat spart gewaltig«, sagt er.

Das Ganze wird garniert mit folgender Rechnung: Hallquists Studienplatz habe 25.210 € pro Jahr gekostet, der schwedische Staat habe aber nur 3.600 € pro Jahr an Studienförderung bezahlt und für diesen Schnäppchenpreis einen Arzt bekommen. Deutschland sei folglich auf dem Rest der Kosten sitzen geblieben. Der Die investigativ recherchierende Autorin hat auch gleich mal bei den Bildungsministerien von drei Bundesländern angefragt, die aber nur lapidar gesagt hätten, dass in der EU eben jeder überall studieren könne.

Hätte der anonym bleibende Autor die Autorin Marie-Charlotte Maas auch jemanden gefragt, der etwas von der Materie versteht, wäre der Artikel kein Gebräu von Falschbehauptungen und Halbwahrheiten. Er ist nämlich extrem schlecht recherchiert.

Das allgemeine System gibt es seit 1965, aber die jetzige Form der Auslandsunterstützung existiert erst seit 1989. Da von Jahrzehnten zu sprechen ist weiter ausgeholt als nötig.

Das ist aber alles harmlos gegenüber den Milchmädchenrechnungen zu den Finanzen.

Das vermeintliche „Geschenk“ des Staates von 300 € im Monat nimmt sich beträchtlich kleiner aus, wenn man sich anschaut, dass der BAföG-Bedarfssatz für Hochschulstudenten derzeit mindestens 414 € beträgt, von dem die Hälfte, also 212 €, in jedem Fall geschenkt sind. Wer z.B. besonders gut ist oder nach Studienende besonder schnell zurückzahlt, erhält darauf auch Abschläge. Der Maximalsatz beträgt übrigens 648 € – da fällt das Geschenk schon deutlich größer ist als 300 €.

Noch weiter geht der Autor die Autorin bei dem vermeintlich zinslosen Darlehen, das zu dem „Geschenk“ hinzukommt. Der Betrag von 600 € kommt noch einigermaßen hin: derzeit sind es 1500 kr (ca. 160 €) pro Woche. Für Zusatzkosten kann man bis 1350 kr (ca. 145 €) pro Woche extra erhalten. Das alles bezieht sich auf Studien in Deutschland. Die jeweiligen Beträge sind nämlich abhängig von den Lebenshaltungskosten im Gastland. In den USA gibt es wegen der längeren Heimreise und den hohen Studiengebühre bis zu 450 € pro Woche als Darlehen. Zinsfrei ist das alles aber mitnichten. Derzeit fallen 2,4% p.a. an, und irgendwelche Abschläge für Schnellzahler gibt es auch nicht. Es wird auch verschwiegen, dass diese Zahlungen nur für Studienwochen geleistet werden. In den Semesterferien erhält man gar nichts.

Ebenso für nicht erwähnenswert wird wohl auch gehalten, dass dieses System nicht dazu gedacht ist, die Studenten ins Ausland zu jagen. Der schwedische Staat besitzt schlicht die Dreistigkeit, seine Studenten so zu unterstützen, dass sie von den Zahlungen nicht nur studieren, sondern tatsächlich auch noch davon leben können. Was nebenbei dazu führt, dass weit mehr Abiturienten ein Hochschulstudium aufnehmen als z.B. in Deutschland. Dass diese Unterstützung auch Auslandsstudien ermöglichen und so die Mobilität fördern soll, ist für den Autor Maas aber anscheinend eine verwerfliche Zielsetzung.

Der Artikel versucht zudem, durch pauschalisierende Behauptungen zu übertünchen, dass offenkundig kaum Daten eingeholt wurden.

So kann man sich schon fragen, woher die Aussage kommt, dass kaum einer der Schweden in Deutschland bleiben möchte. Gibt es dazu irgendwelche belastbaren Fakten? Das schwedische System hat nämlich erhebliche Probleme mit ehemaligen Studenten, die im Ausland bleiben und ihre Schulden nicht bezahlen.

Die genannte Zahl von 29.600 im Ausland studierenden Schweden stammt auch aus einer nicht nachvollziehbaren Quelle. Laut der zuständigen Behörde CSN betrug die Zahl der im Ausland studierenden Schweden – d.h. keine Austauschstudenten – seit 1997 nie mehr als 28.132. Derzeit sind 25.519 Studenten im Ausland. Das ist ja noch einigermaßen verzeihlich. Die Behauptung, das sei „alles auf Kosten der Nachbarländer“, hat der Autor Maas aber anscheinend ohne Kenntnis der Verteilung der Auslandsstudenten gemacht. In der Tat studieren 2.100 Schweden in Dänemark, was angesichts der engen Bindungen untereinander und der Lage Kopenhagens vor Südschwedens Haustür kein Wunder ist. Aber 4.700 studieren in Großbritannien, 4.100 in den USA, 1.800 in Australien und 1.300 in Frankreich – alles Länder, die stattliche Studiengebühren verlangen und sich wohl kaum übers Ohr hauen lassen. Zusammengerechnet sind das nebenbei bemerkt knapp die Hälfte aller Studenten. Dass der schwedische Staat hier viel spart, ist also höchst zweifelhaft. Unter den Ländern mit geringeren Studiengebühren finden sich lediglich Spanien (1.600 Studenten) und Deutschland (1.000 Studenten), die vierstellige Studentenzahlen erreichen.

Interessant ist auch, wenn man sich einmal anschaut, wieviele Ausländer in Schweden studieren. Die Hochschulbehörde Högskoleverket schreibt in ihrem Bericht zur internationalen Mobilität im Studienjahr 2008/09:

[Seit 1999/2000] hat sich die Zahl einreisender Studenten verdreifacht und erreichte 36.600 im Jahr 2008/09. Im Durchschnitt ist das eine Steigerung von 14 Prozent pro Jahr. Dies beinhaltet, dass die Anzahl der einreisenden Studenten nunmehr größer ist als die der ausreisenden Studenten.

Zuletzt studierten über 4.000 Studenten aus Asien in Schweden, die nicht über ein Austauschprogramm gekommen waren.

Nebenbei bemerkt sei auch, dass Schweden auch bei den Austauschstudenten ausgesprochen großzügig ist. Schweden nahm 8.840 Erasmus-Studenten entgegen, schickte selbst aber nur 2.684 ins Ausland. Deutschland hingegen beherbergte 21.939 Studenten, schickte aber 27.894 ins Ausland.

Schweden schickt also viele Leute ins Ausland, nimmt aber noch mehr selbst auf. Bis Mitte dieses Jahres war das sogar gänzlich studiengebührenfrei. Nun werden Nicht-EU-Bürger zur Kasse gebeten.

Eine Reihe von Recherchefehlern und -nachlässigkeiten machen aus dem Zeit-Artikel ein ins Absurde verdrehtes Pamphlet, bei der eine Ausnutzung ausländischer Studiensysteme herbeigeschrieben wird, die eigentlich nicht existiert.

Man kann sogar eine gewisse Böswilligkeit unterstellen, wenn ein vorbildliches – und nebenbei bemerkt erfreulich unbürokratisches – Studienförderungssystem dafür an den Pranger gestellt, dass es seinen Empfängern zuviel Möglichkeiten bietet.

Ein journalistisches Trauerspiel.

Nachtrag: Ich hatte den Namen der Autorin übersehen. Sie heißt Marie-Charlotte Maas. Danke an Jan.

2 Gedanken zu „Wie Schweden vermeintlich seine Bildungskosten den Nachbarn aufbrummt“

  1. Interessant. Ich hätte rein intuitiv dasselbe behauptet wie Du in Deinen Recherchen belegst. Schliesslich ist Schweden dafür bekannt, dass es ein sehr enges Beziehungsnetz und sehr regen Austausch mit Europa und vielen anderen Ländern pflegt. Und dies vornehmlich aus humanitären oder sozialen Gründen, nämlich weil Scheden ein offenes und interessiertes Land ist – und nicht um Kosten zu sparen.

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