Der Bus war es (wahrscheinlich) nicht

Gute 6 Wochen nachdem ein Bus bei Slussen auf einen belebten Platz gerast ist und einige Menschen verletzt hat, ist der technische Bericht der Polizei erschienen. Das ist jetzt zwar auch schon drei Tage her, aber ich wollte es noch nachreichen.

Der Befund ist recht simpel: keine relevanten Sicherheitsmängel konnten an dem 15 Jahre alten Bus gefunden werden. Meine leise Vermutung, dass es nicht der zunächst vielgescholtene und mit seinen 15 Jahren vermeintlich viel zu alte Bus war, sondern leider die Busfahrerin, ist damit erheblich wahrscheinlicher geworden.

Leider deswegen, weil man natürlich niemandem wünscht, so einen Fehler zu machen – immerhin hätte mir auch ein Fehler mit tragischen Konsequenzen jederzeit passieren können. Wenn aber Lenkung und Bremsen versagt haben sollen, der Bus jedoch einwandfrei war, dann kann es eigentlich nur menschliches Versagen gewesen sein.

Tragisches Unglück bei Slussen und die überhastete Suche nach Schuldigen

Während in aller Friedlichkeit der Stockholm-Marathon (Bilder kommen noch) abgehalten wurde, bot sich gleich um die Ecke ein Bild des Grauens.

Das meine ich ernst. Am Samstag geriet bei Slussen ein Bus außer Kontrolle und fuhr auf einen gut frequentierten Platz. Ein Mann wurde schwer verletzt, zwei weitere Frauen leicht. Ein Kinderwagen wurde angefahren und das darin liegende 17 Monate alte Kind herausgeschleudert. Das Kind kam zum Glück mit kleineren Verletzungen davon. In manchen Berichten ist von bis zu 6 Verletzten die Rede.

Um dem geneigten Leser ein Bild der Örtlichkeiten zu geben:

Ausblick von Süden auf Slussen und die Stockholmer Skyline. Das Unglück trug sich auf dem Platz im Vordergrund zu (Bild: Alex Nordstrom; CC-2.5)

Oder, um es noch etwas deutlicher zu machen:

Der Bus fuhr über die Treppe im Vordergrund auf den Platz. (Bild: Alex Nordstrom; CC-2.5)

Der im Hintergrund zu sehende Platz ist der Södermalmstorg, auf dem mehrere Buslinien halten, u.a. auch die Linie 55, die hier involviert war. Soweit ich das rekonstruieren kann, trug sich die Sache folgendermaßen zu: die Linie 55 hatte an diesem Tag auf dem Södermalmstorg ihre Endhaltestelle, denn der weitere Linienverlauf Richtung Altstadt war aufgrund des Marathons gesperrt. Der Bus hatte also vermutlich an der Haltestelle Richtung Hjorthagen (hier zu sehen) oder um die Ecke Aufenthalt bis zu seiner nächsten Abfahrt. Die Haltestelle in der anderen Richtung, wo der Bus neue Passagiere hätte aufnehmen sollen, ist auf dem verlinkten Bild von Hecken verdeckt. Dass die Runde also noch nicht begonnen hatte, war ein großes Glück: es waren keine Passagiere an Bord. Tragisch ist die ganze Sache für die Busfahrerin, die über 10 Jahre Erfahrung verfügt und den Bus gerade übernommen hatte. Die Fahrt endete schon nach wenigen Sekunden. Sie bog wohl rechts ab, um den Platz zu umrunden, und hätte daher gleich wieder rechts abbiegen sollen (wie hier zu sehen bei diesem Bus kurz vor der Kurve).

Das misslang aber offenkundig. Der Bus ging geradeaus die Treppe (siehe oben im Bild) hinunter und kam erst ein Stück später zum Stehen.

Die Frage ist: Wie konnte das passieren?

Viele sind ganz schnell dabei, die Privatisierung des Busverkehrs, angeblich schlechte Wartung der Busse und das Alter der Busse als Ursachen zu sehen. Die Wahrheit ist aber ganz einfach: man kann es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht sagen.

Ich habe weder die Linie 55 gefahren noch jemals in der dafür zuständigen Südgarage gearbeitet. Ich habe die Wartung der Busse auch in meiner eigenen Garage immer nur fragmentarisch erlebt. Aber ich kann durchaus etwas zu diesem Bustyp und einigen anderen allgemeinen Dingen sagen:

  • Er mag zwar nicht mehr so hübsch aussehen, aber der hier verunglückte Bustyp gehört zu den zuverlässigsten. Die meisten dieser Busse haben weit über 500.000 km auf dem Buckel, aber machen weitaus weniger Probleme als neuere Busmodelle. Natürlich haben auch sie ihre Macken, aber keine davon ist sicherheitsrelevant oder beeinträchtigt den Betrieb nennenswert. Das kann man von vielen neueren Bussen wirklich nicht behaupten. Beispielsweise sind die neueren Scania-Gelenkbusse mit solchen Mängeln behaftet, dass es in kritischen Zeiten (z.B. extrem heiße Tage) schwer fällt, überhaupt genügend Rollmaterial auf der Straße zu halten. Deswegen sind die alten Scania-Busse bei den Busfahrern auch erheblich beliebter als die neuen Modelle.
  • SL hat die Belastungsgrenze dieser Busse selbst gewählt. Der Nahverkehrsverbund schreibt eine Höchstbetriebsdauer von 16 Jahren vor. Man kann den beuftragten Firmen wohl nicht vorwerfen, dass sie den im Regelwerk vorgegebenen Spielraum ausnutzen. Das Alter der Busse halte ich also für zweitrangig, solange kein Befund vorliegt, dass diese Busse tickende Zeitbomben sind.
  • Nie, ich wiederhole, nie musste ich einen Bus übernehmen, der offenkundige Sicherheitsmängel hatte. Solche waren zu jedem Zeitpunkt ein hinreichender Grund, einen Fahrzeugtausch zu verlangen. Natürlich kann es sein, dass in der Werkstatt geschludert wurde. Dass dies in großem Umfang geschieht, wäre mir aber neu.
  • Interessant ist auch, dass sich jetzt bei allen möglichen Medien Busfahrer melden, die sich über Qualitäts- und Sicherheitsmängel auslassen. Das mag ja alles stimmen, aber es ist noch lange keine Beweisführung für systematische Fehler. Als die Gorch Fock in die Schlagzeilen kam, meldeten sich plötzlich allerlei Leute, die von schrecklichen Zuständen auf dem Schiff berichteten. Der Kommandant wurde demontiert und dann abserviert. Der Untersuchungsbericht kam hingegen klar zum Schluss, dass dies alles unhaltbar war. Ich hoffe, man kommt nun nach diesem Unglück nicht auf die Idee, die allgemeine Qualität anhand der Aussagen Unzufriedener zu beurteilen, die sich im Schutz der Anonymität aus der Deckung wagen.
  • Auch wenn ich mich in die arme Busfahrerin sehr gut hineindenken kann, kann man menschliches Versagen nicht ausschließen.
    Als solche rechne ich nicht, die alternativen Bremsmöglichkeiten nicht zu verwenden. Wenn man nämlich die Handbremse zieht oder die Türen öffnet, blockieren die Hinterräder. Jedoch ist man als Busfahrer dazu trainiert, eben diese Bremsen im Verkehr sehr vorsichtig einzusetzen, denn sie wirken sehr abrupt und sind daher normalerweise eine Gefahr für alle Insassen. Also kann man nicht erwarten, dass die Fahrerin diese Bremsen sofort betätigt.
    Für den Unfall hätten zwei zentrale Systeme auf einmal versagen müssen: Lenkung und Bremsen. Laut der Aussage der Fahrerin merkte sie nämlich, dass der Bus aus der Spur lief, und versuchte zu bremsen, was aber nicht ging. Dass beides zusammenfällt, ist extrem unwahrscheinlich. Es ist also durchaus denkbar, dass hier noch eine menschliche Komponente mitgewirkt hat.
    Die Vermutung in der Presse, die Fahrerin habe Gas und Bremse verwechselt, ist jedoch wenig plausibel. Diese Busse rühren sich ohne Druck auf das Gaspedal kaum von der Stelle. Die Fahrerin muss also schon auf dem Gas gestanden haben, um den Bus überhaupt zu beschleunigen. Möglich, wenn auch angesichts der Kürze der Strecke unwahrscheinlich, erscheint mir, dass sie den Fuß von den Pedalen nahm – was man eigentlich nicht machen soll, aber natürlich trotzdem ab und zu tut – und vor der nächsten Kurve bremsen wollte, aber stattdessen Gas gab. Der Bus wäre in dem Fall fast zwangsläufig auf die Treppe zu geschossen, denn dieser Bustyp ist im Leerzustand doch recht flott und wäre kaum um die Kurve zu bringen gewesen. Ein unwahrscheinlicher Hergang,der sich zudem nicht mit den Aussagen der Fahrerin deckt.
    Wahrscheinlicher erscheint mir da doch die Möglichkeit, dass die Lenkung wirklich versagte und die Fahrerin einfach nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Dass die Bremsen dann wirkungslos erschienen, kann in der Paniksituation durchaus so erschienen sein.

Bis man aber definitive Ergebnisse hat, wird man abwarten müssen. Es hat jedenfalls keinen Sinn, schon einmal die Wartung der Busse und alle daran Beteiligten in Sippenhaft zu nehmen. Man kann nur hoffen, dass die ganze Sache für die Verletzten glimpflich abgeht.

Slussen in Farbe (und bunt)

Ausschnitt aus dem Lageplan für das neue Slussen: der Verehr wird unter die Erde verlegt, der öffentliche Nahverkehr in den Berg hinein. Der Rest wird zur Fußgängerzone. (Bild und Copyright: Stockholms Stad)

Seit gestern darf man im Sjömanshemmet (Seemansheim) an Peter Myndes Backe 3 auf Södermalm – direkt neben dem Stadtmuseum bei Slussen – eine Ausstellung zur Neugestaltung von Slussen begutachten. Das geht bis zum 19. Juni und zeigt hoffentlich die definitiv endgültige Version der Umbaupläne.

Heute morgen war der Leserbrief einer Frau aus Solna in der Zeitung, die meinte: was beschweren sich die Leute aus Nacka denn über die Situation? Immerhin sind es vom Bus zur U-Bahn nur wenige Schritte. Man sollte Slussen behutsam erneuern.

Blick von Södermalm aus auf den Neubau (Bild und Copyright: Stockholms Stad)

Da hat die Frau nicht ganz unrecht, lässt aber außer Acht, dass das jetzige Busterminal im Winter schweinekalt ist, was sich auch durch einen noch so guten Umbau kaum beheben lässt, denn es ist auf zwei Seiten offen. Außerdem müssen die Passagiere bis zu zwei Busspuren kreuzen, was weder für Busfahrer noch für Pendler angenehm ist und die Unfallgefahr erhöht. Mir ist kein Busterminal vergleichbarer Größe im Großraum Stockholm bekannt, wo ein derartiger Zustand Realität ist: weder Gullmarsplan noch Danderyds Sjukhus oder Liljeholmen verlangen das Überqueren von Fahrspuren.

Nebenbei bemerkt ist das Slussenterminal schon jetzt an der Grenze seiner Belastbarkeit. Viel mehr Busse als jetzt kann man bei der Anlage dort nicht durchschicken, und die beiden hierüber angeschlossenen Kommunen Nacka und Värmdö wachsen schnell. Auch ein Art Stuttgart-21-Argument kann man hier anbringen: der Plan ist schon so weit fortgeschritten, dass jeder Schwenk wiederum mehrere Jahre Verzögerung brächte, die das alternde bestehende Bauwerk beim besten Willen nicht hat.

Blick von der Altstadt aus auf den Neubau (Bild und Copyright: Stockholms Stad)

Freilich bedeutet das nicht, dass das neue Terminal bessere Kapazitäten haben wird – aber hoffen kann man, dass hier vernünftig geplant wird.

Ich war jedenfalls einmal so frei, die Bilder, die man auf der Stadthomepage nur nach Download betrachten kann, hier einmal auszustellen. Vielleicht möchte sich auch jemand die Präsentation im Sjömanshemmet ansehen – ich werde es bei Gelegenheit tun.

Spräng Slussen Nu!

Slussen im Jahr 1939, fünf Jahre nach Eröffnung. (Fotograf unbekannt; in Schweden gemeinfrei)

Am Samstag – wenn ich mich recht erinnere – war ein Leserbrief in meiner Tageszeitung Dagens Nyheter. Der Titel war „Spräng Slussen Nu!“ („Sprengt Slussen jetzt!“).

Der Inhalt (sehr frei wiedergegeben): derjenige, der Slussen in dem Leserbrief vor kurzem so toll fand, sollte sich das Elend mal anschauen. Alle, die so wie ich jeden Tag durch diese Station müssen, finden dieses Bauwerk widerlich. Es ist eine nach Urin stinkende, mit Graffitis übersäte Müllkippe. Der Putz bröckelt von den Wänden. Man sollte es sofort sprengen.

Zugegebenermaßen: ich habe hier auch meine eigene Meinung eingebracht, aber der Mann sprach mir aus dem Herzen. Slussen ist die zweitwichtigste Station im Stockholmer U-Bahn-Netz: 79.000 Menschen gehen hier jeden Tag hindurch. Jeder Bus, der Richtung Nacka und Värmdö nach Osten fährt, beginnt seine Fahrt im Busterminal im Untergeschoss. Daneben beginnt die mittlerweile fast als Museumsbahn anmutende Saltsjöbanan. Darüber befindet sich ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt der Stadt.

Es muss einmal der Stolz der Stadt gewesen sein. Komplex geschwungene Fahrwege verteilten den Autoverkehr auf seine Bahn. Und unter Brücke ist von alters her die Schleuse – daher der Name „Slussen“ – zwischen Mälarensee und Meer. Nichts könnte Modernität und Tradition in Stockholm besser symbolisieren als dieses Bauwerk – wenn heute noch 1950 wäre.

Slussen im Jahr 2009: der Beton bröckelt (Bild: Holger.Ellgaard, Lizenz: CC 3.0)

Im Jahr 2011 ist Slussen jedoch nur noch ein heruntergekommener Schandfleck. Ich habe auch jeden Tag das zweifelhafte Vergnügen, dort umzusteigen, und was man sieht, kann einem nicht gefallen. Das Bauwerk ist in seinen schönen Teilen ungemütlich, überall sonst eine Zumutung. Wo der Beton herausbröckelt, werden notdürftig Stahlnetze angebracht, damit sich niemand verletzt wird. Graffiti und Aufkleber überall – vom Geruch will ich gar nicht reden.
Wenn man sich die Bilder von 1935 anschaut, fragt man sich, ob sich seither irgendetwas geändert hat – wenn man einmal von der Umstellung auf Rechtsverkehr im Jahr 1967 absieht. Es sieht alles noch genauso aus, nur viel viel zerfallener.

Doch Rettung naht, oder vielmehr will die Stockholmer Politik, dass man es glaubt. Denn seit Jahren versucht man im Nachgang eines Architekturwettbewerbs einen Vorschlag zu finden, den man doch tatsächlich umsetzen will. Es wundert mich nicht, dass viele Stockholmer – mich eingeschlossen – die Schnauze voll haben. Es kommt einem so vor, als würde man in dieser Stadt noch über das Design der Arche diskutieren, wenn einem das Wasser der Sintflut schon bis zur Brust steht.

Hier ein paar Beispiele:

Ich würde gerne sehen, wie sich die ganzen 60-jährigen Spaßbremsen am Betonfundament festketten […]

(Herr_hur in den Kommentaren zu diesem Artikel)

So gemütlich ist es in weiten Teilen des Bauwerks. (Bild: Holger.Ellgaard, Lizenz: CC 3.0)

Gestern oder heute […] wurde ich zu einem Treffen eingeladen, um über Slussens Zukunft zu diskutieren. Die haben auch eine Webseite […] http://slussensframtid.se/.

Da sitzen die Leute und quatschen darüber, dass Slussen einer der schönste Europas und so weiter wäre.

Bitte, was? Slussen ist ein verdammtes Dreckloch! Ich bin dort aufgewachsen. […] Und ich sage: Slussen stinkt, Slussen ist eklig, Slussen ist verfallen und unangenehm wie noch was.

Die Straßen sind kurvig, dunkel und kompliziert. Die Luft ist eingeschlossen und stinkt nach Müll. Nachts gibt es keinen anderen Ort in Stockholm, wo ich genauso viel Angst hätte […].

Sprengt Slussen in die Luft.

Es gibt nichts, absolut überhaupt nichts, was Slussen schlimmer machen könnte als heute. Reißt es ab, und zwar schnell!

Ich habe keinerlei Verständnis für Leute, die Slussen bewahren wollen.

(Hanna Fridén in ihrem Blog)

Auch eine Facebook-Gruppe „Slussen – spräng skiten omedelbart“ („Slussen – sprengt den Scheiß sofort“) existiert, wenn auch mit nur wenigen Mitgliedern.
Es gibt sogar eine Internetseite, die Buttons und T-Shirts „Riv Slussen“ (Reißt Slussen ab) verkauft.

Das klingt alles krass, aber mir geht es sehr ähnlich. Die Leute, die Slussen erhalten wollen, können mir ehrlich gesagt gestohlen bleiben – wo waren sie denn, als Slussen zu dieser Katastrophe zerfiel? Man hätte erhalten müssen, als es noch etwas erhaltenswertes gab. Slussen ist keine gotische Kirche, sondern ein verrottender Betonklotz.

Die Stockholmer Verkehrspolitik ist gekennzeichnet durch verschlafenes Vorgehen. Es wird etwas getan, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Slussen hatte schon längst umgebaut werden müssen, nicht erst jetzt. Jeden Tag stauen sich die Autos auf der Essingeleden, aber die Umgehungsstraße um Stockholm ist noch nicht einmal im Bau. Weite Teile der Region sind nur über Busse angebunden und wachsen schnell, aber ein S-Bahn-Netz, das diesen Namen verdienen würde, ist noch nicht einmal in Planung.

Ich hoffe, die Stockholmer Politik ist bald so gnädig, endlich mal Gas zu geben und den Umbau zu beschließen. Heute wird jedenfalls ein neuer Vorschlag vorgelegt, der den Hauptkritikpunkt der eingeschränkten Aussicht auf das Wasser beheben soll. Der ganz große Wurf wird das alles vielleicht nicht werden. Hauptsache, es passiert endlich etwas.

After the storm

Der Begriff „Schneesturm“ wäre vielleicht etwas hoch gegriffen, aber der gestrige Tag war soweit nicht entfernt davon. An die -15°C und ein starker eisiger Wind, überall Schneeverwehungen, Chaos im Nahverkehr. Wir waren in Sollentuna eingeladen, konnten aber die S-Bahn nicht nehmen, weil die schon zu dem Zeitpunkt massive Verspätung hat. Stattdessen haben wir die blaue U-Bahn-Linie, die als einzige fast durchgehend unterirdisch verläuft, genommen und sind in Kista mit dem Bus weiter. Der Rückweg war noch länger – trotz Taxifahrt zur Umgehung der S-Bahn dauerte sie zwei Stunden, u.a. weil die U-Bahn 100 Meter vor unserer Zielstation Slussen stehen blieb.

Der Winter ist hier noch lange nicht vorbei, aber man kann wohl hoffen, dass das zumindest das Schlimmste vorüber ist.

Ich bin gespannt auf den heuten Tag, denn ich darf die Linie 47 fahren, und irgendwie glaube ich nicht, dass auf Djurgården schon viel geräumt wurde.

Gelesen: Volksparteien ohne Volk

Seit knapp einem Jahr verbringe ich fast an jedem Werktag eine Stunde in einem Direktbus nach Slussen. Das ist bequem. Insbesondere erlaubt es mir, viel zu lesen. Etwas, das ich in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt habe.

Bis vor kurzem las ich „Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Demokratie“ von Hans-Herbert von Arnim.

Da steht wohl auch viel Wahres darin. Gut recherchiert ist es allemal.

Jedoch gibt es einige Dinge, die schon alleine vom Stil her auffallen. Der Autor pflegt gerne die Selbstreferenzierung. Da heißt es, der Autor habe dies oder jenes gemacht. Das alles mit dem Unterton, dass schon ein Beitrag seinerseits eine öffentliche Debatte erzeuge.
Ähnlich unschön ist die ausgeprägte Redundanz des Buches. So wird oft innerhalb von 20 Seiten der gleiche Fakt mehrfach aufgetischt – als könne man damit einen Effekt erzielen. Es ließe sich ja mutmaßen, dass dieses Buch noch vor der Bundestagswahl erscheinen sollte und deswegen etwas nachlässig lektoriert wurde. Aber daran kann die ständige Wiederholung nicht liegen, denn sie wird meist mit dem Hinweise „siehe Seite XX“ versehen. Ich habe es daher auch gegen Ende weggelegt, weil ich wusste, dass auf den letzten 30 Seiten nichts mehr kommen wird.

So einleuchtend viele seiner Argumente sein mögen, so ambivalent sind sie oft bei näherem Hinsehen.
Das erklärt sich schon alleine an dem, was als seine innere Überzeugung durchscheint. Für ihn ist ein Parteienstaat anscheinend untauglich, die Interessen der Bürger zu vertreten.

Für ihn ist daher ein Wahlrecht automatisch undemokratisch, bei dem der Bürger nicht direkten Einfluss darauf hat, wer ihn vertritt. Sein Argumentationslinie ist dabei, der „politischen Klasse“, wie er sie gerne nennt, vorzuwerfen, sie würde systematisch darauf achten, dass die allermeisten von ihnen wieder im nächsten Bundestag sitzen würden. In der Tat gibt es dazu allerlei kritikwürdige Instrumente. In der Realität bestimmen die Parteien Listen- und Wahlkreiskandidaten, und da die viele Wahlkreise fest in der Hand einer Partei sind, ist eine Nominierung dort mit einer Wahl gleichzusetzen. Genauso ist es mit der Liste, auf deren Zusammensetzung der Wähler keinen Einfluss hat.

Dass aber die feste Belegung vieler Bundestagsplätze mit der kompletten Vorentscheidung durch die Parteien gleichgesetzt wird, ist fragwürdig. Dabei übersieht er, dass auch in ganz anders gestrickten Wahlsystemen die meisten gewählten Repräsentanten viele Jahre ihr Mandat behalten. Im Senat der Vereinigten Staaten haben mehr als die Hälfte der Abgeordneten ihr Mandat schon mehr als zwei Wahlperioden.

Auch wiederholt er mehrfach den Vorwurf, dass viele über die Liste eingezogene Kandidaten einen Wahlkreis vertreten, in dem sie selbst erfolglos als Kandidat für das Direktmandat angetreten waren. Von Arnim argumentiert also, diese Leute hätten gar keinen Anspruch, die Menschen dieses Wahlkreises zu vertreten. Jedoch wäre vermutlich er unter den ersten Kritikern, wenn Listenkandidaten gar keinen Wahlkreis vertreten würden, denn dies würde die vermeintliche Abgehobenheit der Abgeordneten noch weiter zementieren. Man kann es einem Listenkandidaten wohl kaum verdenken, dass er den Wahlkreis vertreten möchte, in dem er selbst angetreten ist, denn diesen kennt er auch am besten. Es ist ja auch keineswegs so, dass dies in allen Wahlkreisen so wäre.

Immer wieder legt er dar, wie ungeheuerlich sich die Politiker seiner Ansicht bei den Diäten bedienen. Er setzt blind voraus, dass Diäten unangemessen sind, wenn er sie dafür hält. Sein Hauptvorwurf ist, dass eine Entscheidung, die in eigener Sache getroffen wird, tendenziös sein muss. Folglich kann ein Politiker, der über sein eigenes Gehalt zu bestimmen hat, gar nicht objektiv handeln. Ein schlüssiger Punkt – jedoch bleibt unklar, wer denn sonst die Diäten festlegen soll. Eine genaue Festlegung schreibt das Bundesverfassungsgericht vor, und man kann wohl schwerlich den Verfassungsorganen ein Gremium vorsetzen, das über die Diäten zu bestimmen hat. Die Entscheidung in eigener Sache ist also ein notwendiges Übel. An Alternativvorschlage aus dem Buch kann ich mich nicht erinnern.

In vielen Dingen hat er allerdings recht. Wie kann es sein, dass die oberen Parteigremien praktisch alleine bestimmen, welche Personen in den Bundestag überhaupt einziehen können, während dem Bürger und selbst dem einfachen Parteimitglied nur tendenzielle Mitbestimmung gewährt wird?
Sollte der Bürger nicht auch die Möglichkeit haben, eine Partei zu unterstützen, ohne deren Personalauswahl widerspruchslos hinnehmen zu müssen?

Das sind wichtige Fragen, auf die von Arnim Antworten gibt, die vor allem in den Bereich des Mehrheitswahlrechts gehen.

Man muss mit seinen Lösungsvorschlägen nicht konform gehen, auch ich tue es nicht. Aber die Punkte, die er vorträgt, sollten diskutiert werden.

Allerdings ist fraglich, ob man dies am besten auf die Art tut, indem man über Hunderte von Seiten immer wieder die gleichen Argumente wiederholt.