Peter Antoine

Unbedarfterweise habe ich ja bislang angenommen, dass der von Media Markt seit längerem eingesetzte WerbeträgerPeter Antoineeine Kunstfigur ist, die einen Deutschen darstellen soll.

Nach einem Hinweis in den Kommentaren zu meinem letzten Beitrag habe ich doch noch einmal genauer nachgeschaut. Ich lag ziemlich daneben.

Durch quasi nichtexistenten Fernsehkonsum war mir beispielsweise nicht bewusst, dass Peter Antoine eine kleine Berühmtheit ist in Schweden. Eine Kunstfigur ist er auch nicht.

Der Mann ist Fußballtrainer. Nun mag man sich fragen, ob man von ihm trainiert werden will, aber eine seiner Stationen als Trainer war die „Assyriska Föreningen Södertälje„, ursprünglich ein Einwandererfußballverein, der es vor zwei Jahren sogar in die oberste Liga schaffte. Ich konnte auf die Schnelle nicht herausfinden, unter wessen Anleitung dieser Erfolg gelang, aber ich vermute einmal, dass es nicht Peter Antoine war.

Das alles hat ausgereicht, um ihn zum Fußballexperten bei TV4 und TV5 (in der Sendung „Tipsextra“) zu machen – ersteres ist sozusagen das RTL Schwedens. Dort gab er anscheinend Bewertungen und Prognosen zum europäischen Spitzenfußball zum besten. Wie es auch mit Jürgen Klopp war, war es wohl auch mit Peter Antoine: man hat ihn nicht eingeladen, weil er schon so wahnsinnig bekannt war, sondern er wurde erst durch seine Originalität richtig bekannt.

Für das sorgte wohl alleine schon sein Äußeres – Schnauzbart und getönte Brille sind in dem Fall wohl das Pendant zu Günter Netzers Haarpracht.

Viel mehr trug allerdings sein Redestil bei. Zum Einen klingt er wohl nicht richtig schwedisch, zum Anderen verwendet er inflationär viele Wörter, die man im Fernsehen eigentlich vermeiden sollte. Dies muss so ausgeprägt sein, dass seine Imitatoren jeden Satz mit „jävel“ (verdammt), „förbannad“ (sauer, erbost), „skit“ (scheiße) und „fan“ (eigentlich „Teufel“, aber im Wesentlich ein Fluchwort) ausschmücken.

Einer seiner notorischen Auftritte war in einer Debatte darum, ob man wegen der ganzen Prostitution die WM in Deutschland boykottieren solle. Er wurde gegenüber dem Gleichstellungsbeauftragten des schwedischen Reichstags ausfällig, benutzte Schimpfwörter und befürwortete stark die Legalisierung von Prostitution in Schweden. Das kam vermutlich nicht so wahnsinnig gut an.

Man kann sich grob vorstellen, wie er als Fußballexperte auftritt: selten positiv – eine weitere Parallele zu Netzer – nur dass er niemals so gut gespielt wie dieser und natürlich jenseits jeder Höflichkeit. Vielleicht sollte ich mir das doch einmal anschauen.

Das alles dürfte einigermaßen erklären, wieso man bei Mediamarkt einen solchen Werbeträger haben wollte. Er macht einfach genug Krawall, um entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Offenbar ist die Schmerzgrenze auch dann nicht überschritten, wenn man ihm einen Professorenhut aufsetzt und ihn dümmliche IQ-Tests präsentieren lässt.

Die finale Frage bleibt aber: wieso verkörpert er Deutschenklischees?

Die Antwort ist einfach, denn er wurde (laut seines schwedischen Wikipedia-Artikels) 1944 in Essen geboren, ist mit Åsa Antoine (dem Vornamen nach zu urteilen ursprünglich von hier) verheiratet und lebt heute im südschwedischen Sölvesborg. Wie lange er oder ob er überhaupt jemals längere Zeit in Deutschland gelebt hat, geht aus dem Artikel leider nicht hervor.
Tja, liebe Landsleute, manche unserer eigenen Promis kennen wir selbst nicht. Irgendwie können wir da auch ganz froh sein.

PS: Um den Herren Klopp und Netzer kein Unrecht zu tun, möchte ich noch anmerken, dass die beiden ausschließlich bei Länderspielen zum Einsatz kommen. Peter Antoine hingegen ist anscheinend da im Privatfernsehen präsent, wo man ihn gerne haben möchte. So hat er beispielsweise auch bei der Reality-TV-Sendung „FC Z“ mitgemacht, in der es darum ging, aus 15 Nerds eine Fußballmannschaft zu zimmern.

Top-Hits

Mittlerweile steht fest, welche Singles sich am besten verkauft haben. Interessant ist, dass ich vom Erstplatzierten noch nie etwas gehört habe.

Viel Zeit dazu hatte ich allerdings auch nicht – es handelt sich um Frans Jeppsson-Wall, und der ist erst 7 Jahre alt. Er ist dafür aber schon recht polyglott unterwegs, denn das Lied ist in Schwedisch, Englisch und – man lese und staune – Deutsch.

Kleine Textkostprobe:

I love you, Ich liebe dich, Zlatan Ibrahimovic

Bei soviel herzerweichender Sympathie für Zlatan werden wohl auch die Schweden schwach und kaufen.

PS: Vorwitzige Zeitgenossen werden jetzt unken, dass die Single nur so weit vorne landen konnte, weil keiner mehr CDs kauft. Das mag stimmen, aber bei den legalen Downloads lag Frans auch ganz vorne.

Gedanken zum Tage

In 9 Stunden geht mein Flieger – Zeit, ein Resümee über 2 Wochen Deutschland abzugeben.

  • Jürgen Klinsmann – so muss es beginnen – ist nicht mehr Bundestrainer. Vorher gehasst, nachher geliebt, hat er einfach seinen Hut genommen und in der Gepäckablage der First Class Richtung Los Angeles verstaut. Recht hat er, sagen viele; schade, sagen alle; war ja sowieso klar, sagen auch ziemlich viele – und bei der letzten Aussage wird einem bewusst, dass 4 Wochen Euphorie den deutschen Grundpessimismus mächtig beschädigen, aber niemals vernichten können.
  • Mein Germany-T-Shirt ist weg. Sachdienliche Hinweise nehme ich gerne entgegen.
  • Baden ist nach wie vor schön, aber auch verdammt heiß. In Stockholm sind gerade angenehme 22°C – ein Grund, sich auf den Rückflug zu freuen.
  • Allzuviele andere Gründe gibt es aber nicht. Meine zwei Wochen beim SWR lassen mich wehmütig werden. Und das, obwohl ich die meiste Zeit damit verbrachte habe, irgendwelche Mails umzukopieren.
  • Auf der anderen Seite: wäre ich noch in Karlsruhe, wäre ich nicht minder wehmütig.
  • Nach einem Jahr Schwedisierung sehe ich auch die negativen Nebeneffekte
  • Synchronisierte Filme beispielsweise sind mir ein Graus. Waren sie schon immer, aber dass ich peinlich berührt nach 10 Minuten nicht mehr zuschauen will, ist mir früher nie passiert. Ich überlege, eine Lobbyorganisation dagegen zu gründen. Nicht gegen das Peinlich-Berührt-Sein, sondern gegen das Synchronisieren von Filmen.
  • Das bargeldlose Bezahlen ist in Deutschland in einem bescheidenen Zustand. In zahlreichen Kneipen kann man nach wie vor nicht mit Karte bezahlen. Das Problem ist zwar nicht allzu häufig, aber stellt sich in Schweden auch erst gar nicht.
  • Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Zahl der Leute, die man in 2 Wochen Heimaturlaub treffen kann, mit der Länge des Aufenthalts nicht zwangsläufig zunimmt.

Mein Gefühl sagt mir, dass das Heimweh etwas stärker sein wird in meinem zweiten Jahr in Stockholm. Fast alle, die ich kenne, sind schon in die Heimat zurückgekehrt – und allzuviele Bekanntschaften habe ich in Schweden noch nicht. Aber das kann ja kommen.

Heute wird auf alle Fälle gepackt:

  • Weizenbiergläser (in Schweden kaum erhältlich)
  • Akkuhaarschneider (billiger hier)
  • Deutschlandfahne (muss wieder mit)
  • Maultaschen

Damit sollte die erste Zeit in Stockholm weniger schwer sein.

Fabian Seitz Radiostar

Vor einer Viertelstunde war besagtes Radioninterview, das, obwohl live, erstaunlich gut lief. Letztendlich hat es mir doch ein bisschen noch den gestrigen Tag versüßt, denn im Gegensatz zu den anderen 82 Millionen Deutschen wollte bei mir gestern keine so richtige Feierlaune aufkommen.

Um wirklich authentische Eindrücke zu erhalten, wagte ich mich in die Höhle des Löwen und schritt mit deutlich sichtbarem Germany-T-Shirt sowie deutlich weniger sichtbaren Deutschland-Socken durch Södermalm, um mir irgendwo einen guten Platz zu sichern. Die Stadt war schon merklich leerer als am Dienstag – Midsommar zeigt seine Wirkung und alle sind in Urlaub. Außer ein paar beiläufigen Blicken habe ich auf dem Hinweg nichts kassiert, keine Pöbeleien oder Zurufe – erstaunlich. Im Snaps, einer Kneipe mit Biergarten, saßen dann sogar einige Deutsche mit bemalten Backen. Noch mehr erstaunt hat mich allerdings eine vollbusige Verkäuferin, die in einem Klamottengeschäft arbeitete und ein Germany-Top trug. Insbesondere deswegen, weil sie ja eigentlich was verkaufen will. Ich war also zumindest nicht komplett alleine. Nachdem im Snaps alle interessanten Plätze belegt waren und im Big Ben Pub, wo ich am Dienstag Schwedens Spiel anschaute, das obere Stockwerk schon voll und das untere noch nicht belegt war, ging ich in die Bar daneben.

Das Spiel fand ich furchtbar – nicht weil Deutschland schlecht gespielt hätte (im Gegenteil), nein, sondern weil die Schweden derart schlecht gespielt hatten. Zusätzlich vermiest wurde mir die Sache, dass ich mir erlaubte, bei den beiden Toren ein bisschen zu klatschen, worauf ein Barmann mir sagte, ich solle ruhig sein, weil das sonst hier Ärger verursachen könnte. Nach Randalemachern sah mir das Publikum (zu guten Teilen Frauen mittleren Alters, Schwangere und junge Mütter mit Kinderwagen) zwar nicht aus, aber der Kommentar reichte mir in jedem Fall, um zu zahlen und weiterzuziehen. Im Big Ben hatte es sich mittlerweile etwas gefüllt, die Stimmung war aber ungefähr auf Beerdigungsniveau, was angesichts dieser demütigen Vorstellung der schwedischen Kicker auf dem Platz kein Wunder war. Bei denen klappte auch wirklich gar nichts: erst hatte man sich von den Deutschen eiskalt überrumpeln lassen und schaffte es seither nicht mehr, auch nur eine gescheite Torchance herauszuspielen. Dass Lehmann einmal den Ball ins Aus befördern musste war auch schon alles. Besonders bitter wurde es, als ich vom Klo zurückkam und gerade Lucic gelb-rot für ein bisschen Trikotzupfen kassierte. Ich war zwar bei dieser Entscheidung sehr irritiert, aber mir wurde später erzählt, ZDF-Experte Urs Meier hätte das für korrekt befunden. Und einem schweizer Weltklasseschiedsrichter kann man keine Inkompetenz oder gar mangelnde Neutralität vorwerfen – letzteres würde in der Schweiz vermutlich den Tatbestand der Verleumdung erfüllen. Der Elfmeter war natürlich dann die endgültige Katastrophe – der Ball dürfte meinen Schätzungen zufolge am Dienstag auf dem Mond aufschlagen. Direkt neben dem von Beckham.

Der Rückweg war seltsam – einer zeigte mir Daumen hoch, was mich zum Grinsen verleitete. Ein prollig wirkender Schwede schaute mich etwas komisch an, worauf ich ihm prophylaktisch ein „I’m sorry“ entgegenwarf, was er wohl aus seiner jahrelangen Hooliganerfahrung politisch recht unkorrekt mit „eins, zwei, drei, Nazipolizei!“ beantwortete. Zwei Mädels und ein Betrunkener saßen an einem Tisch vor einem Imbissstand. Ein Mädchen sagte einfach nur „Springa!“ („lauft!“), der Betrunkene kam her und umarmte mich. Naja, heute wollen wir mal nicht so sein. In der U-Bahn begegnete mir noch ein Karlsruher Student, der aber strategisch klug Undercover im KTH-Pullover unterwegs war.

Mein Presseecho:

  • Expressen (Boulevardzeitung) : „Avgå! Mats Olsson: Sparka Lagerbäck!“ („Tritt ab!“ Mats Olsson: Feuert Lagerbäck!“). Besagter Mats Olsson schreibt in seinem Bericht: „Bei dem 2:0 gegen Deutschland sagen die Zahlen kaum mehr aus, als dass die Deutschen gewonnen haben. Sie sagen aber nichts darüber, welche Erniedrigung wir erlitten haben und wie wir überrollt wurden. (…) Die ersten 15 Minuten waren das schlechteste Auftreten einer schwedischen Nationalmannschaft, das ich jemals gesehen habe. (…) Andreas Isaksson spielte als Torhüter auf Weltniveau. Aber was half das schon? (…) Der Schiedsrichter machte ein Kreuz, als er das Spielfeld verließ, und es ist möglich, dass Carlos Simon aus Brasilien ahnte, dass er sich an höchster Stelle dafür verwantworten werden müsse, dass er uns eine extrem harte Strafe gegeben hat. Dagegen hatte er nichts zu tun mit Lukas Podolskis zwei Toren. Viele von euch sind sauer, dass er grinste, als er Teddy Lucic rot zeigte. Ich persönlich bin eher sauer, dass Podolski zu ihm lief und ihm zur Beglückwünschung auf die Schulter klopfte. Oder zum Dank. Oder zu was auch immer. (…) Die Zukunft der Nationalmannschaft – und des schwedischen Fußballs – sieht düster aus. (…) Am 7. Oktober spielen wir in Råsunda gegen Spanien. Spanien! Bis dahin will ich einen anderen Nationaltrainer haben.
  • Aftonbladet (auch Boulevard) ist weniger meinungsmachend. Sie schreibt „En epok är slut“ („Eine Epoche ist zu Ende“), betreibt Lebenshilfe mit „9 råd som hjälper dig ur krisen“ („9 Ratschläge, die dir aus der Krise helfen“). Der Schiedsrichter war aber in jedem Fall ein Arsch, meinen sie mit „Hånad av Domaren – Landslagets attack efter utvisningen: ‚Man ville se tyskarna vidare'“ („Vom Schiedsrichter verhöhnt – die Nationalmannschaft nach dem Platzverweis: ‚Man wollte die Deutschen weiter sehen'“) und schreiben als Bildunterschrift zur roten Karte „De tyska spelarna skriker på domaren som sedan tar upp först det gula, sedan det röda kortet. Och han gör det med ett leende på läpparna. Lucic utvisad.“ („Die deutschen Spieler rufen zum Schiedsrichter, der dann erst die gelbe, dann die rote Karte herauszieht. Und er tut das mit ein Lächeln auf den Lippen. Lucic des Platzes verwiesen.“). Der Betroffene sagte laut dem Blatt: „…der Schiedsrichter lächelte einfach. Er glaubte wohl, der Platzverweis wäre sonnenklar. Ich glaubte nicht, dass die zweite gelbe Karte kommen würde. Das passierte im Eifer des Gefechts (sehr frei übersetzt) und wir hielten uns aneinander fest. Das kam mir zuerst wie ein Scherz vor.“ Ganz unabhängig vom Spiel fand ich diesen Artikel interessant. Das Prostitutionsgeschäft scheint von der WM nicht sonderlich profitiert zu haben – sicherlich nicht wegen des vermeintlichen schwedischen Boykotts, sondern vielmehr, weil das Problem allerorten angesprochen wurde. Insofern auch ein Erfolg der Proteste.
  • Svenska Dagbladet (seriös) titelt „Sverige helt chanslöst“ („Schweden vollkommen chancenlos“). „Die erste Halbzeit war der reinste Alptraum für die Schweden, die vollkommen ausgespielt wurden. Ohne einen inspirierten Andreas Isaksson hätte der Rückstand doppelt so hoch ausfallen können. (…) ‚Ich kritisiere üblicherweise keine Schiedsrichter, aber dieses Mal bin ich der Meinung, dass er den Spielverlauf beeinflusste. Ich finde, dass Teddys Verwarnungen zu diskutieren sind. Außerdem war Ljungberg genau der gleichen Sache ausgesetzt, als Teddy seine zweite Karte bekam‘, sagte Lagerbäck. (…) Die schwedische WM-Party ist vorbei.
  • Dagens Nyheter (seriös) schreibt „Mardrömmen i München“ („Der Alptraum von München“). Im Artikel dazu steht: „Innerhalb von zwölf Minuten hatte die Heimmannschaft den Traum von einem neuen Bronzesommer [Anm.: hier wendet man das Medaillenschema auch gerne auf Plätze im Allgemeinen an.] zerschlagen. (…) Schwedens Courage erholte sich wenigstens ein bisschen gegen Ende der ersten Halbzeit. (…) Andreas Isaksson zeigte im ganzen Spiel Weltklasse und war Schwedens zweifellos bester Spieler. (…) Einer von wenigen schwedischen Lichtblicken in München.

Also war insgesamt der Schiri ein Arsch – aber das kann man ja immer sagen.

Wie dem auch sei – meine Eltern kommen heute abend, meine Deutschlandflagge hängt am Fenster und ich sage nur

54, 74, 90, 2006, ja, so stimmen wir alle ein. Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein werden wir Weltmeister sein!“

Konsequent sind sie ja…

nur wie die Redakteure bei der Stockholmer U-Bahn-Zeitung Stockholm City in ihrer WM-Beilage auf die Schreibweise gekommen sind, ist mir schleierhaft.

Auf alberne Obstwitze verzichte ich jetzt mal.

Ein Kollege bei DASDING hat angefragt, ob ich nicht ein paar böse schwedische Fußballsprüche kenne. Leider ist bei meiner Recherche nichts herausgekommen. Die Schweden sind zuversichtlich, aber schlagen werden wir sie trotzdem 🙂

Am Wochenende wird meine Superstarkarriere einen ungeahnten Schub erhalten. Weil ich eventuell sogar gleich zweimal von Fritz, dem Jugendsender des RBB, interviewt werden werde – und zwar live. Ich befürchte Schlimmes…

Ausgepowert

Nachtrag von der gestrigen Rückreise:

Dieser Eintrag entsteht im Zug zurück – seit gestern hatte ich nicht wirklich die Zeit und Energie, noch etwas zu schreiben. Weltbewegendes ist ohnehin nicht mehr passiert, denn ungewöhnlicherweise endete der Kongress schon um 16 Uhr – seither war er nur noch ein „Konvent“, bestehend aus einer Reihe Seminare. Das gestern – Thema war der europäische Arbeitsmarkt – habe ich ausfallen lassen, weil mir eine Stunde Schlaf im Hotel attraktiver erschein. Mein ohnehin bescheidenes Hörverständnis der schwedischen Sprache nimmt zudem erheblich ab, wenn ich müde bin. England gewann derweil gegen Paraquay. Für das nachfolgende Spiel, Schweden gegen Trinidad und Tobago, hatte ich eigentlich einen gewaltigen Auflauf im Versammlungssaal erwartet. Stattdessen war dort gähnende Leere. Letztendlich landete ich in der Hotelbar und schaute es mir dort fast alleine an.

Das 0:0 wurde von den schwedischen Medien wie auch von den Schweden selbst als Katastrophe angesehen. Sicherlich ist es kein Ruhmesblatt, gegen einen Nobody wie das Inselpaar nicht zu gewinnen, aber man muss denen auch zugestehen, dass sie gar nicht mal so schlecht gespielt haben. Heute titelten die Zeitungen dazu Sachen wie „Mardrömsmatch“ (Albtraumspiel) oder „VM-fiasko“. Allerdings ist noch nichts verloren, wenn es auch gegen Paraquay und England nicht leichter werden dürfte. Meine zwei aus Argentinien stammenden Genossen deuteten im Übrigen mittlerweile an, die Gruppenauslosung sei getürkt gewesen, so dass Deutschland eine solch leichte Gruppe bekommen hätte. Glauben tue ich es zwar nicht, aber auch in einer schwereren Gruppe wären wir weiter gekommen.

Der gestrige Abend wurde mit einem Fest beschlossen – allerdings ist das nicht so wie bei den Juso-Landesdelegiertenkonferenzen, wo irgendwo in der Halle eine Rumpelkapelle spielt. Hier geht das alles etwas nobler zu. Etwas festliche Kleidung wurde erwartet, wenn auch kein Anzug vorgeschrieben war. Es gab ein ansehnliches Dinner, immer wieder unterbrochen durch Danksagungen und vor allem Gesang. Der Durchschnittsschwede kennt 167 Lieder inklusive Text, wovon mindestens 166 Trinklieder sind – das 167. ist die Nationalhymne. Genossen kennen zusätzlich noch die Internationale. Im Ernst: das Liedrepertoire der meisten ist echt beeindruckend. Zudem hat jeder Studentenklub ein eigenes Lied. Mein Klub, SSK aus Stockholm, hat auch eines, das zwar keiner von uns kannte, aber da wir ja die größte Delegation waren, war der Blamagefaktor etwas reduziert. Um mich herum saßen drei Damen, zur linken eine Genossin aus Lund in Skåne (also Südschweden). Die war mir schon in ihren Redebeiträgen etwas aufgefallen, weil sie klar vernehmlich den Dialekt dieser Region spricht. Mir gegenüber saß eine Genossin meines eigenen Klubs. Man erlebt immer wieder Überraschungen hier: die Skånerin war ein Jahr in Hamburg und spricht deutsch, und auch meine Klubkameradin kann etwas deutsch. Das Wochenende war sprachlich für mich ohnehin eine interessante Mischung aus meinen drei Sprachen, wobei sich natürlich bei meinem Schwedisch traurige Abgründe hervortun. Auch wenn es sehr nett, hat es natürlich auch einen besonderen peinlichen Aspekt, wenn mir dann angeboten wird, es doch einfach auf deutsch zu sagen. Interessanterweise saß heute morgen eine vor dem Versammlungssaal und machte „Das große Stern-Soduko“. Wenig später sprach sie mit jemandem Englisch. Ich hatte zwar keine Gelegenheit, mich mit mir unterhalten, aber anscheinend war ich doch nicht ganz so exotisch bei der Veranstaltung, wie ich ursprünglich gedacht hatte.

Im Anschluss an das Dinner war eine Party. Ich zog mich einigermaßen zeitig zurück. Da der Sonntag nur aus Seminaren bestehen sollte, wollte ich mich früher auf den Heimweg begeben. Der Plan klang brilliant, nur hatte er massive Schwächen. Am Bahnhof stellte ich fest, dass der Verkaufsschalter geschlossen hatte (ist ja auch Sonntag), dass die Schließfächer außer Betrieb waren und ich zu allem Überfluss noch mein Handy vergessen hatte – großartig. Also zurück zum Hotel, Handy holen, zurück zum Bahnhof. Beim Anruf bei der SJ-Hotline (SJ ist die schwedische Eisenbahn) bekam ich erst nach 10 Minuten einen Gesprächspartner, der mich auch sofort mit „one moment please“ abspeiste, als ich meine Absicht verkündete, Englisch reden zu wollen. Weitere 2 Minuten später dann endlich jemand, der mir helfen konnte – die Antwort war recht kurz: nein, eine anderweitige Nutzung des Tickets ist nicht möglich. Das ist wie Sparpreis bei der Deutschen Bahn. Nur, dass man bei SJ wirklich spart.

So bin ich geblieben und habe mir ein Seminar zur Hälfte angetan. Bis ich hinausging, saß die Hälfte der Zuhörerschaft da und fächerte sich Luft zu, weil so warm in dem Raum war. Leider konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, so dass ich auch nicht mehr den Redebeiträgen zum Thema „Mäns våld mot kvinnor“ (Männergewalt gegen Frauen) folgen konnte.

Nach einem netten Abschluss in einem Café geht es jetzt nach Hause. Mein vorläufiges Resümee: interessant, aber leider für mich sehr schwierig, alles zu verfolgen, und außerdem einen ziemlich unglücklichen Zeitplan. Wenn ich Zeit und Lust habe, kommt später ein stilistisch schöneres Resümee später 🙂

Bitte stimmen Sie jetzt

Irgendwie kommt mir das alles sehr bekannt vor: es gibt einen Delegierten mit Bart, der zu fast jedem Antrag seinen Senf dazugeben muss – so einen gab es bei den Jusos BaWü auch mal, bis er dann 35 Jahre wurde und nicht mehr teilnehmen durfte. Es gibt auch einen, der Parsa Marvi recht ähnlich sieht. Einer hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Niels Annen, aber der ist ja gar nicht aus BaWü.

In jedem Fall wird das hier gerade spaßig. Es wurde um Globalisierung diskutiert – ein klassisch linkes Thema natürlich. Und nun wurde abgestimmt wie wild. Was wir beschlossen haben, ist mir nicht so ganz klar, aber ich glaube, unsere Kompromisshaltung „ja mit Einschränkungen“ scheint durchgekommen zu sein. Ich sehe mich eh mehr als „Röstboskap“ (Stimmvieh) 🙂
Nochmal kurz zum Abstimmungsverfahren hier:

  • Erst wird gefragt, ob einem Antrag zugestimmt werden soll. Oft kommt es auch vor, dass zwei Anträge gegeneinander gestellt werden. Man sagt „ja“, um Zustimmung anzuzeigen.
  • Das Verfahren hat natürlich die Schwäche, dass wenn die Minderheit lauter schreit, ein verfälschter Eintrag entstehen kann. Daher kann man dann „Kvotering“ rufen, was dann zur Abstimmung mit dem Heben von Stimmkarten führt.
  • Ist dann jemand immer noch nicht zufrieden, kann er „Rösträkning“ (Stimmenzählung) rufen. Dann wird gezählt.

Die Möglichkeit, sich zu enthalten, gibt es im Übrigen nicht. Normal reicht meist die erste Stufe, aber bei kontroversen Themen kommt es öfters vor, dass mit Stimmkarten entschieden werden muss. Soeben häufig geschehen.

Woanders werden Entscheidungen durch viel Schweiß herbeigeführt. In Gelsenkirchen beispielsweise, wo Polen soeben gegen Ecuador verloren hat, womit ich mit meinen Vorhersagen gründlich falsch lag. Die letzten Minuten schaute ich mir im chinesischen Fernsehen an – dank Sopcast.

Im Deutschlandspiel gab es übrigens nur ein Abseitstor. Naja, wir haben ja so oder so gewonnen.

Es wird Zeit, zu zeigen, wie der schwedische Finanzminister aussieht:

Der geübte Beobachter wird feststellen: Er sieht wie ein verschwommener Fleck aus, der ein Polo-Shirt trägt. Im Ernst – ich bin immer wieder beeindruckend über die Formlosigkeit, die in diesem Land üblich ist. Der Justizminister fläzte sich auf dem Sofa, der Finanzminister kommt im Polo-Shirt. Ich weiß zwar nicht, ob das der Volksnähe dient, aber Politiker erscheinen hierdurch definitiv menschlicher. Wobei kein Zweifel daran bestehen kann, dass Politik überall ein schmutziges Geschäft ist.

Mittlerweile geht es um Antrag Nr. 23 – die Sozis sollen sich im Irak engagieren. Das ist eine gute Idee, wie mir scheint, auch wenn es mir schleierhaft ist, wieso daran gerade eine Diskussion aufbaut. In jedem Fall: Nette Idee – Freiwillige vor.

Der Verbandsvorstand will außerdem noch hinzufügen, dass die USA den Irak verlassen und durch eine UN-Truppe ersetzt werden sollen. Das halte ich persönlich für eine blöde Idee, weil mehr als nur fraglich ist, welches Land bereit ist, sich auf ein solches Himmelfahrtskommando einzulassen. Allerdings hab ich hier ja nicht zu melden, sondern nur schon bereits bei uns in Stockholm gefällte Beschlüsse auszuführen. Also werde ich auch dafür stimmen.

Scheiße gepfiffen, trotzdem gewonnen

Die entscheidende Frage ist nicht, wer gewonnen hat – nein, es ist vielmehr die, wie oft das schwedische Fernsehen es schafft, innerhalb eines Fußballspiels den Kanal zu wechseln. Ja, richtig gelesen: Kanal zu wechseln. Die Antwort ist: 3mal, und zwar:

17:15 Uhr – Beginn der Vorberichterstattung in SVT1 (erster Fernsehkanal) mit zwei weiblichen (ich wiederhole: weiblichen) Fußballexperten. Eine davon ist aber nur kurz zu sehen. Dafür darf dann ab sofort auch ein Mann mitreden. Ich habe zu diesem Zeitpunkt gerade einen Irish Pub gefunden, wo ein paar tätowierte Vorabendprolls abhängen und meiner klar erkennbaren Attitüde zum Trotz offenbar für Costa Rica sind, obwohl es ihnen eigentlich egal ist.

17:30 Uhr – Man sieht zwei erbärmlich kurze Fetzen der Eröffnungsfeier. Ein Experte sagt dass für die Deutschen „die Mannschaft“ (O-Ton) wichtig sei. Nun, bei welchem Fußballland ist dies nicht so?

18:05 Uhr – Lahm schießt ein Tor. Das Spiel scheint entscheiden.

18:15 Uhr – Kanalwechsel 1. Es wird eingeblendet, dass es jetzt auf SVT2 weitergeht. Ich hatte das zwar vorher schon im Fernsehprogramm gelesen, wollte es aber nicht so recht glauben. Zu allem Überdruss hat Costa Rica gerade ausgeglichen. Und wenn ich das richtig in der Zeitlupe gesehen habe, durch ein Abseitstor. Aber wir wissen ja alle: Abseits ist es nur, wenn der Schiedsrichter pfeift – was er dieses Mal nicht tat.

18:45 Uhr – Die Expertenrunde beredet das Spiel. Übrigens: Schweden hat auch ein Ballack-ähnliches Problem. Der Torwart ist nämlich verletzt.

19:00 Uhr – Es hat sich gerade fast ausexpertiert, da findet der nächste Kanalwechsel statt: wieder zurück zu Kanal 1. Es wird weiter gespielt. Klose hat übrigens in der 17. Minute nochmal vorgelegt. Das Spiel scheint wieder sicher. Er beschließt spontan, noch einen reinzumachen und erweitert auf 3:1. Mittlerweile hat sich das Prolllager verdünnt und neben mir sitzen zwei Studenten, die ebenso wie ich etwas enttäuscht sind, dass in Linköping offenbar kein Mensch an dem Spiel interessiert ist. Die Kneipe ist so gut wie leer.

19:30 Uhr – Es ist soeben wieder ein Tor für Costa Rica gefallen. Wieder war es laut Zeitlupe abseits. Wieder hat der Schiedsrichter nicht gepfiffen, also war es kein Abseits. So einfach kann Fußball sein. Daraufhin wechseln wir doch Kanal: überraschend auf SVT2.

19:45 Uhr – Kurz vor Schluss gibt der Schiedsrichter einen Elfmeter nicht. Ich liege zwar bei solchen Dingen notorisch falsch, aber das schien uns allen als ziemlicher klarer Strafstoß – sogar die Prollfraktion stimmt zu. Kurz darauf ist Abpfiff – wenn ich mit meiner Einschätzung nicht völlig falsch liege, auch für dieses Schiedsrichterteam. Mit solchen kapitalen Fehlern brauchen die wohl nicht mehr aufzulaufen.

Deutschland hat gewonnen – wer hätte das gedacht. Ohne Ballack und gegen einen komischen Schiedsrichter. Fußball ist bekanntermaßen das Spiel, bei dem 22 Leute über den Platz stolpern und am Ende gewinnt – naja, das kennt man ja.

Ich bin derweil zurück beim Kongress. Der Finanzminister hat übrigens ein Polo-Shirt getragen. Mehr derart brandheiße Infos kommen später.

Erste Eindrücke

Mittlerweile werden die ersten Anträge behandelt – im Moment geht es um ein Verbot von Pornografie. Wir haben uns glücklicherweise für einen Kompromiss entschieden. Der Antragsteller wollte nämlich alles in Erotik oder Pornorgrafie aufteilen, was meiner Meinung nach ein schwerer Eingriff in eine Reihe Grundfreiheiten wäre.

Hier ein Bilder:

Sosse hat ungefähr die gleiche Bedeutung wie Sozi auf deutsch – mir scheint aber ohne den Rote-Socken-Beigeschmack 🙂

Stark verrauschter Blick auf die Bühne (im Vordergrund Fredrik, unser Delegationschef)

Mein Deutschland-Schal und mein Laptop – beim DASDING-WM-Tipp soll auch ja alles funktionieren.

Meine beiden Banknachbarn – Ylva, die für Gleichstellungsfragen zuständig ist und momentan fast im Minutentakt zur Versammlung spricht, und August, der, wie sich mittlerweile herausgestellt hat, Drummer ist, schon im Substage in Karlsruhe war und außerdem für Moneybrother auf dem Southside Festival gespielt hat. Die Welt ist ein Dorf 🙂

Die Reihe vor mir links Paula, rechts Claudio

Unglaublich – jetzt spricht der schwedische Finanzminister. Mehr dazu später – eins kann ich schon sagen: er sieht ganz anders aus als Peer Steinbrück

Reiseblog…

Nach eineinhalb Monaten schreit dieses Weblog nach Belebung. Ich sitze in einem X2000, dem schwedischen ICE, und bin auf dem Weg nach Linköping (schwedische Aussprache: Linschöping). Das nicht von ungefähr, denn als eingefleischter Sozialdemokrat lasse ich es mir natürlich nicht nehmen, beim Kongress von S-Studenter, dem sozialdemokratischen Studentenverbund, dabei zu sein. Bis heute nacht um 3 sollen Anträge behandelt werden – klingt nach einer Menge Spaß. Ich bin Ersättare, also wörtlich übersetzt Ersetzer – auf deutsch passt wohl das etwas sperrige Wort Ersatzdelegierter am besten. Groteskerweise habe ich mich spontan in die Gruppe zur Behandlung der Fragen der Gleichstellung zwischen Frau und Mann angeschlossen – ein etwas heikles Feld, denn Prostitution und Pornografie kommen nach Auffassung vieler Sozis hier vom Teufel höchstpersönlich. Zur Prostitution habe ich mich vor kurzem hier ja geäußert – dankenswerterweise wird beim Kongress nicht noch einmal das Thema WM aufgegriffen.

Das würde mir heute auch mächtig die Stimmung vermiesen, denn es ist WM-Tag. Seit Tagen bewegen ich mich auf einer Woge nationalen Hochgefühls, habe Taschentücher beim Anschauen von „Das Wunder von Bern“, „Die Helden von Bern“ und „Das Wunder von Bern – die wahre Geschichte“ vollgeheult, habe nach 11 Monaten im Lande meine ansatzweise muffigen Deutschland-T-Shirts ausgelüftet und auch angezogen. So sitze ich hier: DFB-Cap, Deutschland-Schal, Germany-T-Shirt und Deutschland-Socken. Lediglich die Fahne ist im Schrank geblieben. Nichts kann einen Zweifel daran lassen, dass ich Klinsis Gurkentruppe von Herzen unterstütze.

Marc fragte, ob das nicht ein bisschen zuviel sei – nein, ist es nicht. Garantiert nicht. Ganz bestimmt nicht. Ich riskiere hier gerne, mich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen, denn wann darf ein Deutscher so offen Patriotismus zeigen wie an diesem Tag, der uns ein seit ein Monates herbeiersehntes, aber auch von der Werbung über alle Maßen penetrant beworbenes Ereignis bringen wird? Ich erhoffe mir vor allem eines: einen Schub – den nämlich, den Deutschland schon lange gebraucht hat, den weder schöne Ruckreden noch eine ambitionierte Kampagne wie „Du bist Deutschland“ hervorrufen konnte. Aber Fußball kann Berge versetzen – zumindest, wenn sie auf deutschem Territorium liegen. Am 4. Juli 1954 wurde Nachkriegsdeutschland geboren, 1974 wurde Helmut Schmidt Kanzler, 1990 brachte uns die Wiedervereinigung.

Und wenn am 9. Juli Michael Ballack die FIFA-Trophy entgegennehmen sollte, dürfte es zumindest für einen kleinen Schubs reichen.

Es kann beginnen…

Wegen nicht vorhandenem Internetzgang verspätet um 14:10 Uhr eingetragen.