Ein kleines Abenteuer

Erinnert sich noch jemand an Todd Bieber? Ich hätte den Namen bis vor ein paar Minuten auch nicht erinnert.

Es ist der New Yorker, der nach dem Blizzard letzten Winter einen Film in Prospect Park im New Yorker Stadtteil Brooklyn gefunden hatte. Einen 35-mm-Foto-Film, um genau zu sein – die Älteren werden wissen, was das ist. Er suchte den Besitzer des Films, und ich fand die Geschichte so nett, dass ich das Video hier postete.

Wie ich heute gesehen habe, bin ich nicht der einzige, der das gemacht hat. Ganz im Gegenteil: es wurde ein kleines virales Phänomen, und das Video wurde mittlerweile 1,7 Millionen mal angesehen. Wie die Geschichte weitergeht, kann man in den beiden folgenden Teilen sehen. Es lohnt sich.

Mehr im Geldbeutel – was die Regierung so plant

Nach dem gestrigen Beitrag sollte man vielleicht noch erklären, was die Regierung genau vorhat. Schweden kommt ziemlich gut aus der Krise, und das will die Regierung gleich zu weiteren Steuersenkungen nutzen.

Eine Reihe Reformen wurde gerade auf den Weg gebracht:

  1. Weitere Senkung der Einkommenssteuer: Nachdem die Regierung schon in der vorigen Legislaturperiode die Steuern gesenkt hat, will sie das wieder tun. Soweit ich das verstehe, funktioniert das so, dass je nach Bruttoeinkommen ein Teil des Einkommens als eine Art Grundfreibetrag abgezogen wird. Dieser Teil soll nun nochmals erhöht werden. Genaueres kann man hier berechnen lassen.
  2. Die Grenze zur staatlichen Einkommenssteuer wird erhöht: im schwedischen Steuersystem wird abzüglich der erwähnten Freibeträge alles Einkommen einer Steuer unterworfen, die an die Kommunen und die Provinzen geht. Erst ab einer gewissen Grenze wird das darüber hinausgehende Einkommen mit eine Steuer belegt, die an den Gesamtstaat geht. Diese Grenze soll nun angehoben werden.
  3. Für im Ausland Wohnende wird die Steuer gesenkt: wer sich weniger als das halbe Jahr in Schweden aufhält, unterliegt einer anderen Besteuerung. Dies soll nun auch gesenkt werden.
  4. Absenkung der Mehrwertsteuer für Catering- und Restaurantdienste
  5. Steuersenkung für Pensionäre: diese profitieren nicht von den oben erwähnten Steuersenkungen und erhalten getrennt eine Senkung.
  6. Mehr Geld an die Justiz
  7. Weiterhin gesenkter „Vorteilswert“ für umweltfreundliche Autos (bis 2013): besonders umweltfreundliche Autos werden in einigen Bereichen steuerlich besser gestellt. Der „Vorteilswert“ (Förmånsvärde) betrifft Dienstwagen. Da die Bereitstellung eines solchen einen geldwerten Vorteil darstellt, wird der Wagen berechnet wie eine Art zusätzliches Einkommen, das dann zu versteuern ist. Der „Vorteilswert“ gibt die Höhe dieses zusätzlichen Einkommens an. Durch den gesenkten Vorteilswert ist es also steuersparend, einen solchen Dienstwagen zu haben anstatt eines weniger umweltfreundlichen Modells.
  8. Absetzbarkeit von Spenden an gemeinnützige Organisationen: bisher kann man spenden, soviel man will – steuerlich macht es keinen Unterschied.
  9. Steuern auf Alkohol und Tabak werden erhöht: die einzige Steuererhöhung, die mir bislang untergekommen ist. Zigaretten wird 10% höher besteuert, Snus 13%, Wein und Bier 12,7% sowie Spirituosen mit 5%.

Am meisten Wellen schlägt freilich die zuerst genannte Steuersenkung für Arbeitnehmer – daher auch der gestrige Beitrag. Von linker Seite wird kritisiert, dass diese Steueränderungen die Reichen begünstigen. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Geschönte Zahlen

Das Finanzministerium führt nämlich in seinen Berechnungen auf, dass eine Pflegehelferin mit 23.200 kr Bruttoeinkommen im Monat um ganze 189 kr Steuern erleichtert wird. Klingt gut, aber der Haken ist: man muss erstmal eine Pflegehelferin finden, die derart viel verdient, um ihr die frohe Botschaft mitzuteilen. Schon 20.000 kr im Monat sind für diesen Job ziemlich ambitioniert. Auch die Krankenschwester mit 28.800 kr ist die absolute Ausnahme. Allgemein hat die Regierung also die Zahlen etwas aufgehübscht, um die Steuersenkungen größer aussehen zu lassen.

Ich bin allgemein sehr skeptisch gegenüber diesen Änderungen. Zwar entlasten sie den Bürger, aber wie ich gestern dargelegt habe, darf durchaus bezweifelt werden, dass dies zur Verbesserung der finanziellen Situation der Haushalte beiträgt. Es dürfte in erster Linie den Konsum ankurbeln.

Verkomplizierung des Steuersystems

Besonders kritisch sehe ich es in der Hinsicht, dass die Stärke des schwedischen Steuersystems die Einfachheit ist. Mit zusätzlichen Detaillösungen und Korrekturen wird es komplizierter – und wie das deutsche System eindrücklich zeigt, haben solche Verschiebungen oftmals kaum positive Effekte, machen das System aber weniger gerecht und erhöhen den bürokratischen Aufwand.

Ich frage mich auch, ob man damit nicht den Kommunen das Leben schwermacht. Die Einkommenssteuer geht schließlich größtenteils an die Kommunen, und mit einem weiteren Freibetrag sinkt das Steueraufkommen in diesem Bereich.

Mehrwertsteuersenkung für Restaurants: Unfug

Ziemlich ärgerlich finde ich die Mehrwertsteuersenkung für Restaurants und Catering.

Ich bin der Meinung, dass jegliche Mehrwertsteuerausnahmen nicht sinnvoll sind. Sie werden vom Verbraucher nicht wahrgenommen, weil sie in der allgemeinen Preisentwicklung untergehen – der Markt ist viel schneller als die Steuergesetzgebung, und jede Steuersenkung ist bald kaum noch wahrnehmbar. Will man sie abschaffen, ist das fast nicht mehr möglich, weil die betroffenen Gruppen aufschreien.

Das gilt insbesondere in diesem Fall. In Frankreich hat vor knapp zwei Jahren die Mehrwertsteuer in Restaurants massiv von 19,6% auf 5,5% gesenkt. Dort wurde das heftig diskutiert, weil man zurecht befürchtete, die Restaurants würden einfach ihre Gewinnmarge erhöhen. Man verpflichtete die Restaurants zu Preissenkungen, und dies wird bis heute auf vielen Speisekarten dem Gast präsentiert.

Genau dies wird in Schweden angesichts der geringen Aufmerksamkeit kaum passieren. Ich gehe davon aus, dass schon wenige Monate nach der Steuersenkung die Preise wieder das vorige Niveau erreicht haben werden. Es landet dann nicht mehr im Steuersäckel sondern irgendwo anders – vermutlich nicht in den Lohntüten der Arbeitnehmer.

Steuerbefreiung von Spenden

Auch für die Steuerbefreiung von Spenden kann ich nicht viel erübrigen. Mir kommt gerade dies in Deutschland immer als eine Art Schattenwirtschaft vor, bei dem die Gelder hin- und hergeschoben werden, wobei vollkommen unklar ist, wieviel das Ganze der Allgemeinheit wirklich bringt. Haben denn gemeinnützige Organisationen in Schweden Finanzprobleme? Das Thema scheint vom heiteren Himmel zu fallen.

Hätte man besser verwenden können

Ich hätte es wieder einmal begrüßt, wenn man zuerst geschaut hätte, was man mit den Überschüssen so alles machen kann, anstatt sie sofort in Kanäle zu leiten, die vermutlich keinen großen Nutzen erbringen werden.

Eigentlich hätte man erwarten müssen, dass die Regierung diese Änderungen erst kurz vor der nächsten Wahl macht, um Popularität zu gewinnen. Vielleicht will sie aber ihre Stammklientel beglücken, wie sie es schon vor vier Jahren machte. Restaurantbesuche, Dienstwagen und hohe Einkommenssteuer betreffen vor allem die Reichen. Man darf gespannt sein, welche Bonbons sie zum Ende der Legislaturperiode verteilen wollen.

Mehr Geld im Geldbeutel – das eigentümliche Verhältnis der Schweden zum Kredit

In dicken Lettern prangte es heute morgen auf der Zeitung:

Mer i plånboken om inte räntan stiger

Zu deutsch:

Mehr im Geldbeutel wenn die Zinsen nicht steigen

Es ist nicht die erste derartige Schlagzeile, die ich lesen darf. Jedes Mal, wenn sich an den Steuern, den Löhnen und vor allem an den Kreditzinsen etwas ändert, wird davon geschrieben, dass man nun mehr oder weniger im Geldbeutel. Dieses Mal geht es um Steuern, die leicht gesenkt werden sollen.

Das Paar, das heute porträtiert wird, kommt zwar aus Indien, ist aber in dieser Hinsicht voll schwedisiert, denn es verkündet erfreut:

”Vi kan spendera mera nu”

also:

”Wir können jetzt mehr ausgeben”

Vielleicht bin nur ich es, aber mir scheint, dass es in diesem Punkt einen grundlegenden Unterschied zwischen schwedischer und deutscher Sichtweise gibt. Während ein Deutscher (nach meinem Empfinden) nur einen Kredit aufnimmt, wenn er gar nicht anders kann, und ihn dann straff organisiert innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes zurückbezahlt, empfindet ein Schwede die Schuldenlast offenbar nicht als solche. Er hat anscheinend keine sonderliche Ambitionen, sie schnell wieder loszuwerden, und nichtmal ein Problem damit, nur die Zinsen zu bedienen.

Anders kann ich mir diese Form der Selbsttäuschung kaum erklären. Es ist eigentlich unnötig zu erklären, dass man nicht mehr im Geldbeutel hat, wenn man Schulden in (Kronen-)Millionenhöhe vor sich herschiebt, sondern allenfalls mehr Luft hat, die Schulden zurückzubezahlen. Aber lieber lässt man das Damoklesschwert von beweglichen Zinsen über sich hängen als dass man aktiv Vorsorge trifft. Kein Wunder, dass jede Leitzinsänderug, die Reichsbankschef Stefan Ingves verkündet, mit Argusaugen beobachtet wird.

So laufen hunderttausende hochverschuldete Schweden durch die Welt und glauben tatsächlich, sie hätten bald mehr Geld im Geldbeutel – und realisieren nicht, dass die Zinsen derzeit immer noch ziemlich niedrig sind.

Ich mache mir Sorgen

Was ist nur mit Christiane Sadlo alias Inga Lindström los?

Dieser Streifen „Das dunkle Haus“, der da gerade im ZDF läuft, ist nicht halb so schmalztriefend und schwachsinnig wie gewohnt.

Zwar sind die Häuser mal wieder viel zu groß, die Landschaft mal wieder übermäßig schön, die Musik übermächtig und in den Details hapert es wie immermächtig. Selbstverständlich sind wieder allerlei Liebesverwirrungen dabei, und das Ganze wirkt wie ein Knobelspiel, bei dem man herausfinden muss, wer nun mit wem zusammenkommt und wer am Ende übrig bleibt. Aber: keine lächerlichen Namen, keine gravierenden Fehlbesetzungen, keine dummdreist zusammengeschusterte Rahmenhandlung, keine überzogenen Schmierentheaterzufälle. Die Story geht sogar über pure Banalität hinaus.

Das heiß zwar noch lange nicht, dass das alles glaubwürdig ist oder große Filmkunst – aber das muss es bei einem ZDF-Fernsehfilm auch nicht sein. Weder geht es darum, die Goldene Palme zu gewinnen, noch eine quasidokumentarische Darstellung Schwedens zu erreichen. Selten war der Konsum eines Inga-Lindström-Films so wenig von Fremdscham und Brechreiz begleitet.

Frau Sadlo, ich mache mir Sorgen. Geht es Ihnen gut?

Alles neu im Geldbeutel

Als ich letzten September das Ende der Öre als Münze würdigte, hatte ich nicht viel Anschauungsmaterial zu bieten. Die älteren silberfarbenen Versionen des 50-Öre-Stücks waren nämlich schon länger aus dem Verkehr verschwunden, und die verbliebenen kupferfarbenen waren eher Brieftaschenbeschwerer als echtes Zahlungsmittel.

Diese Woche war ich aber bei der Bank mit einem Münzeinzahlungsautomat. Offenkundig ist die Reaktion der meisten Leute, nicht verwertbare Münzen einfach am Automat liegen zu lassen, weswegen dieser so aussah:

Unverwertbare Bestände am Münzeinzahlungsautomat in der Bank

Es gibt im Land sicherlich noch einen Berg dieser Münzen – und seit 31. März 2011 sind sie auch definitiv wertlos, denn da endete die Frist, sie noch bei Banken einzulösen.

Der Automat hatte aber noch mehr zu bieten. Neben einem Spielchip (im obigen Bild auch zu sehen) und einem 25-Cent-Stück aus Kanada verbargen sich dort die folgenden beiden Münzen.

Vorderseite von 50-Öre-Münzen aus den Jahren 1970 (links) und 1990 (rechts)

Rückseite von 50-Öre-Münzen aus den Jahren 1970 (links) und 1990 (rechts)

Die linke Münze wurde noch zu Zeiten von Gustav VI. Adolf geprägt, was man an dessen Wappen erkennen kann.

Nun, dies ist alles Geschichte. Alle diese Münzen sind obsolet. Aber nicht nur mein Bankbesuch ist ein Anlass, hier noch einmal das Thema Geld aufzugreifen. Die schwedische Reichsbank ist nämlich in ihrem Erneuerungsdrang fortgeschritten und will praktisch alles Geld austauschen:

  • Die Münzen zu 1 Krone, 2 Kronen und 5 Kronen werden kleiner und leichter als heute. Im Fall des 2-Kronen-Stücks bedeutet das im Wesentlichen eine Neueinführung, weil diese Münze zuletzt vor 40 Jahren geprägt wurde und schon lange aus dem normalen Kreislauf verschwunden ist. Das 10-Kronen-Stück wird unverändert im Umlauf bleiben. Die 1-Kronen- und 2-Kronen-Stücke werden aus kupferummanteltem Stahl hergestellt werden. Ich wage zu vermuten, dass diese eine gewollte Parallele zu den 1-,2- und 5-Cent-Münzen ist. Schweden wird langfristig den Euro einführen, und da ist man gut beraten, Material, Gewicht und Größen so zu wählen, dass die Umstellung leichter fällt. 5-Kronen-Stücke werden wie die 10-Kronen-Stücke aus der Legierung „Nordisches Gold“, die auch bei den 10-,20- und 50-Cent-Münzen zum Einsatz kommt. Ich bin gespannt auf die genauen Designs, die aber wohl erst in knapp einem Jahr fertig sein werden. Sinnvoll finde ich die Umstrukturierung nur teilweise. Die 10-Kronen-Münze ist unhandlich dick, und bislang war bei den schwedischen Münzen kein nachvollziehbares System wie beim Euro zu erkennen. Dass die größte Münze unverändert bleibt, ist wohl ein Zeichen dafür, dass es auch künftig kein solches System geben wird.
  • Die Scheine werden um einen 200-Kronen-Schein erweitert. Konsequenterweise hat man sich für eine komplett neue Banknotenserie entschieden. Das finde ich sinnvoll, denn der 200-Kronen-Schein würde sonst wie ein Fremdkörper wirken. Im Hinblick auf den Euro ist es in diesem Fall nicht so wichtig, wie die Scheine aussehen, denn entsprechende Automaten werden sowieso umzustellen sein. Die Meldung in der Woche war aber natürlich trotzdem, wer oder was künftig die Scheine zieren wird. Man hat sich dafür entschieden, die Vorderseite mit bekannten Persönlichkeiten zu bedrucken und die Rückseite mit Natur- und Umweltmotiven einer der schwedischen Landschaften, die einen Bezug zur abgebildeten Person hat:
    Wert Vorderseite Rückseite
    20 Kronen Astrid Lindgren Småland
    50 Kronen Evert Taube Bohuslän
    100 Kronen Greta Garbo Stockholm
    200 Kronen Ingmar Bergman Gotland
    500 Kronen Birgit Nilsson Skåne
    1000 Kronen Dag Hammarskjöld Lappland

    Es sind also recht zeitgemäße Motive, wenn man so will – keiner der Abgebildeten ist mehr als 50 Jahre tot. Die Auswahl kann man freilich kritisieren. Mir fällt vor allem auf, dass bis auf Dag Hammarskjöld alle Künstler sind, was natürlich die Frage aufwirft, wieso man nicht konsequenterweise auch noch den größten Schein mit einer kulturellen Persönlichkeit verziert hat. Für die meisten Schweden dürfte vor allem der Abschied von Selma Lagerlöf schmerzen, denn ihr Motiv hat dem 20er den Spitznamen „Selma“ eingebracht. Mit Astrid Lindgren hat man aber mehr als adäquaten Ersatz.

    Die Farben der Scheine werden sich teilweise ändern: der bislang eher grünliche 100-Kronen-Schein wird blau, der 200-Kronen-Schein dafür grün. Die anderen Farben bleiben gleich, was den Umgang erleichtern dürfte. Seltsam ist hingegen die Entscheidung in Sachen Größe: alle Scheine werden 66 Millimeter hoch sein und damit fast genauso hoch wie der aktuelle 20er und der 10-Euro-Schein. Lediglich die Breite wird variieren zwischen 120 mm (aktuelle Breite des 20er) und 154 mm (zwischen 500 Kronen und 1000 Kronen, ungefähr so breit wie ein 200-Euro-Schein).

Es wird sich also einiges ändern bis ca. 2014/15, wenn diese ganzen Neuerungen im Umlauf sein werden.

Ich frage mich allerdings, ob der Aufwand in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen steht. Die Münzumstellung wird volkswirtschaftlich einiges kosten, ohne dass dadurch irgendein Vorteil entstehen wird. Die Scheinumstellung wird vielleicht eine bessere Sicherheit bringen – ich gehe einmal davon aus, dass die Euroscheine hier voraus sind – aber auch hier stellt sich die Frage, ob die Umrüstung unzähliger Automaten Sinn macht. Es kann gut sein, dass die Scheine den Bürger erreichen, wenn die Euroeinführung schon beschlossene Sache ist. Im Extremfall wird dieser ganze Aufwand also betrieben, um ohne Not einige wenige Jahre andere Scheine zu haben.

Es windete

Gestern war einer der windigsten Tage, seit ich in Schweden lebe. Zwar kann man noch nicht direkt von einem Sturm sprechen, aber zumindest von Sturmböen. Es wurde vor Windgeschwindigkeiten von bis zu 30 m/s gewarnt, was 108 km/h entspricht und somit Orkangeschwindigkeiten (117 km/h und mehr) nicht weit verfehlt. Das Gehen wurde jedenfalls erheblich erschwert.

Als junger Feuerwehrmann durfte ich einst den Orkan Lothar mit den zahlreichen Zerstörungen allerorten miterleben. An diese Dimensionen reichte das gestern freilich nicht heran, aber es fielen Kleinigkeiten auf. So flog bei McDonald’s in Nacka die rechte Hälfte des McDrive-Schildes weg. Auf der Straße lag ein Stück Dachrinne, das sich gelöst hatte. Als wir nach hause kamen, ging das Internet nicht.

Dabei war landesweit schon ein bisschen Chaos ausgebrochen: der Schienenverkehr hatte erhebliche Probleme und in fast 40.000 Haushalten fiel der Strom aus.

Wenn etwas Schlimmes passiert, dann sind nachher alle schnell damit, zu belehren, dass man doch Warnungen hätte hören müssen. Hatten wir gestern aber nicht, und so fiel uns nur auf, dass es windig war, mehr nicht.
Denn ausgerechnet gestern stand ein Ausflug zum Globen Skyview an, und wir dachten uns nichts weiter. Dort hatte man den Betrieb zwar kurzzeitig unterbrochen, aber fuhr dann doch. Wir waren vermutlich die letzte Tour des Tages. Sobald wir die Spitze erreichten, wurde es sehr laut und die Kabine wackelte. Nach Rückkehr fragte der Mann am Ausgang, wie es denn so war, und die zwei hinter uns antworteten, dass es sich unbehaglich anfühlte.

So weit würde ich nicht unbedingt gehen – ich stand während der ganzen Fahrt – aber es klingt nach einer guten Idee, einen Lift, der eine Glaskugel an die Spitze eines 85 Meter hohen Gebäudes transportiert, bei solchen Bedingungen außer Betrieb zu nehmen.

Da war’s vorbei mit der Busfahrerei

Der letzte Bus

Es traf mich unerwartet: Randy Cohen hört auf. Noch nie von ihm gehört? Schade eigentlich, denn er war 12 Jahre lang der Autor der Kolumne „The Ethicist“ in der New York Times. Wie der Name schon andeutet, geht es dort um ethische Fragen, oder vereinfacht darum, in Zweifelssituationen das moralisch richtige zu tun.

Oft habe ich die Kolumne auf dem MP3-Player während meiner Arbeit als Busfahrer gehört. Es ist nicht nur von rein akademischem Interesse. Gerade das Busfahren und insbesondere der Umgang mit den Fahrgästen hat mich öfters in Zweifel gestürzt, ob ich denn richtig gehandelt habe. Meistens musste ich feststellen, dass ich es zumindest hätte besser machen können. Meist ging es um den Umgang mit dem Konflikt – aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen sind Schwarzfahrer uneinsichtige Menschen – denn im Unrecht in der Sache war ich nur selten.

Ironischerweise ereilte mich die Kunde von Cohens Abgang zu dem Zeitpunkt, an dem ich selbst dabei war, meinen Hut zu nehmen. Es war mein vorletzter Arbeitstag als Busfahrer. Heute läuft mein Vertrag aus. Nach 3 Jahren und 8 Monaten endet meine Karriere in diesem Beruf.

Vernunft und Arbeitgeberregularien – oft ein Widerspruch

Eigentlich mochte ich den Job immer. Ich wollte Aktivitäten, die ich schätzte, in meinem Leben halten, auch wenn man eben nicht alles gleichzeitig machen kann. Lange Zeit war es eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle. Aber auch eine, die ihren Tribut forderte. Meine Chefs bzw. die Firma Busslink bestanden darauf, dass ich mindestens 20% einer Vollzeitstelle leistete, was auf ca. 4 Tage im Monat hinauslief. Das neben meiner Haupttätigkeit zu bringen bedeutete im letzten Jahr nicht selten, dass ich zwei Wochenenden im Monat aufgab, was wiederum mit sich brachte, dass ich über zwei Wochen (und mehr) keinen freien Tag hatte. Hatte man etwas vor, so legte man die Arbeitstage außen herum. Letzten Endes gab es nur zwei Arten von Wochenenden: solche, an denen etwas geplant war, und solche, an denen man arbeitete. Erst in letzter Zeit fiel mir auf, wie schön es ist, wirklich frei zu haben an diesen Tagen.

Mein Sommerjob 2008: als Busfahrer streiken

Die Idee, dass man neben seinem 20%-Job vielleicht noch einen 80%- oder gar 100%-Job haben könnte, der nicht so flexibel ist, kam bei meinen Chefs nie ganz durch und dementsprechend auch nicht gewürdigt. Obwohl anscheinend ständiger Personalmangel herrschte – ich wurde über lange Zeit mehrmals pro Woche angerufen – war die unumstößliche Grenze von 20 Prozent wichtiger als die Deckung des Bedarfs. Jedes Mal, wenn die Vertragsverlängerung anstand – und das war meist alle 6 Monate – schrammte ich knapp an diesem Limit entlang. Ich konnte noch so glaubwürdig vorrechnen, dass ich gerne auch 20 Prozent des Urlaubs hätte, mir also auch mal erlauben wollte, frei zu haben, aber verfangen hat dies selten. Ich musste mich rechtfertigen, dass ich nicht noch mehr brachte.

Letzten Endes transportierte dies auch die Botschaft, dass ich für die Firma nicht wichtig bin. Gerade in letzter Zeit wurde mir bewusst, dass es im Grunde egal ist, ob ich meinen Job gut mache. Nie hatte ich ein Mitarbeitergespräch, das den Namen verdient hätte. Nie gab es Lob oder Tadel. Selbst wenn es Beschwerden über mich gegeben haben sollte – und die gab es bestimmt – habe ich davon nie erfahren.

Deutlich machte mir das aber erst die Episode mit meinem Strafzettel im November. Ich bin immer noch überzeugt, dass die Firma diesen unsinnigen Strafzettel hätte annullieren lassen können, wenn nur jemand mit der beauftragten Parkfirma Q-Park gesprochen hätte. Schließlich war es Busslink (bzw. jetzt Keolis) selbst, die den Parkplatz besitzt, und einen Mitarbeiter wegen einer kleinen Nachlässigkeit um fast seinen ganzen Nettotageslohn zu bringen ist wohl in niemandes Interesse. Die Unwilligkeit meines Chefs, irgendetwas zu unternehmen, warf die Frage auf, wieso ich mich für die Firma einsetze, wenn die Firma dies nie für mich tut.

Mein erster Stempel - ein uraltes Ding, bei dem sich immer wieder die Schrauben lockerten. Ironischerweise ging er kurz vor meiner Kündigung verloren, und der letzte Stempel, den ich erhielt, war um Längen besser.

Ich kündigte an, meinen Vertrag nach Ablauf nicht mehr zu verlängern, worauf man mir die Standardformel „wir respektieren deinen Entschluss“ entgegnete. Die Sache wurde abgerundet durch ein letztes Telefongespräch mit meinem Chef in der Woche, in der ich meinen letzten Arbeitstag hatte. Er hielt mir wieder einmal vor, ich hätte nur 18% gearbeitet, was so kaum stimmen kann, da ich letztes Jahr im Sommer teilweise 6 Tage pro Monate gearbeitet habe und nach dem Urlaub im Dezember meinen 4-Tage-Schnitt konstant hielt. Ich sagte ihm, dass ich das nicht so sehe, aber es nun egal sei, weil ich aufhöre. Da meinte er, er wisse dies schon, aber er müsse nochmal nachfragen. Wenn ich das richtig verstanden habe, war das also eine Pflichtschuldigkeit, bevor er mich los ist. Zu guter Letzt wollte er, dass ich meine Arbeitssachen noch vor Ablauf des Vertrages einreichen solle. Das werde ich nicht, schon aus terminlichen Gründen, was er dann auch hinnahm – immerhin.

In den drei Jahren meiner Tätigkeit hatte ich vier Chefs – es gab beträchtliche Umwälzungen in dieser Zeit. An den Namen meiner ersten Chefin erinnere ich mich nicht mehr, weil sie direkt danach aufhörte. Dann kam Mats, der nett war, aber den ich nur ein- oder zweimal getroffen habe. Es folgte Milton, den ich schon von seiner Tätigkeit als Chef vom Dienst kannte, wo er die Busse verteilte und schaute, dass alle Dienste gedeckt sind. Er machte mir es mit der 20%-Regel nicht einfach, aber man konnte mit ihm reden. Sein Nachfolger Efrem kommt definitiv am schlechtesten weg, denn es ist er, der mir nicht helfen wollte, und der auch ganz froh zu sein schien, dass ich aufhöre.

Vorletzter Bus - blau, elegant, untermotorisiert, aber ansonsten ganz in Ordnung

Es ist also nicht ohne Bitterkeit, dass ich meinen Hut nehme. Die Wehmut bezieht sich denn auch nicht auf eine Firma, von der ich zwar viel hatte in Form von zusätzlichem Einkommen, eines Versicherungspakets und einer Dienstfahrkarte (ich war selbstverständlich immer im Dienst). Sie bezieht sich vielmehr darauf, dass es schon cool war, so ein Riesengefährt durch die Stadt zu steuern, und dass ich es in absehbarer Zeit nie wieder tun werde. Ich werde es bald wohl weitgehend verlernt haben.

Ein ambivalentes Verhältnis zum gemeinen Passagier

Zurück bleiben die Erinnerungen an Erlebnisse, positive wie negative, auch wenn man konstatieren muss, dass letztere überwiegen. Konflikte mit Fahrgästen waren häufig, vor allem, weil ich es mit dem Tickets sehr genau nahm, wenn ich Schwarzfahrer erwischte. Die gelegentliche Genugtuung, richtig gehandelt zu haben, die Freude daran jemandem geholfen zu haben, und seltene nette Gespräche verzuckerten die Arbeit ein bisschen.

Manchmal kam dies sogar zusammen. Einmal hatten vier Jungs versucht, hinten einzusteigen, um der Fahrkartenkontrolle zu entkommen. Ich schaltete den Motor ab und sagte, wenn sie nicht nach vorne kommen, um die Tickets zu zeigen, bleiben wir solange stehen, bis der Wachdienst kommt. Als sie merkten, dass ich es ernst meinte, und ausstiegen, kam eine Frau nach vorne und bedankte sich. Positiv war die Sache auch deswegen, weil ich damit die Methode gefunden hatte, die ich künftig in solchen Fällen immer anwenden würde. Zuvor hatte ich meine Fahrerkabine verlassen und den Schwarzfahrer direkt konfrontiert. Damit begab ich mich aber in eine Position der Schwäche, was den Konflikt manchmal nur verschärfte und mich als nicht ernstzunehmen darstellte. Einmal war einer sogar so dreist, mir zu sagen, er verstünde mein schwedisch nicht. In der Situation sah ich nicht gut aus, und wertvolle Minuten gingen verloren. Manchmal war es aber auch lustig. Vor einiger Zeit kam ein Paar herein. Er ging mit seinem Hund vorbei, sie hielt ihr Ticket an die Maschine. Ich fragte, was mit seinem Ticket sei. Da lehnte sie sich zu mir vor und drückte mir fast ihren Ausschnitt in Gesicht und sagte „das ist mein Mann, der ist betrunken. Kannst du nicht eine Ausnahme machen?“ Sie war übrigens auch betrunken, und so eine Masche zieht bei mir nicht. Ich schätzte immer Ehrlichkeit: wenn jemand sagte, dass er kein Ticket habe, aber ein paar Stationen mitfahren wolle, dann ließ ich das durchgehen, auch wenn ich das strenggenommen nicht dürfte – schaute aber auch, dass sich die Gegenseite an den Deal hielt. Wer aber versuchte, sich an mir vorbeizustehlen oder mir irgendwelche Uralttickets vor die Nase hielt, hatte nicht viel zu erwarten. Letzten Endes war ich dafür verantwortlich, dass alle ein Ticket hatten. Im Lichte der weiter oben erwähnten Probleme mit meiner Firma ist es fast ein Witz, dass ich das so ernst nahm, obwohl die Wahrscheinlichkeit einer Fahrkartenkontrolle selbst in der Innenstadt annähernd Null ist – in den drei Jahren hatte ich vielleicht drei- oder viermal Kontrolleure an Bord.

Das Schlimme daran ist – auch ein Grund für die Kündigung – dass man letzten Endes den Glauben an das Gute im Menschen verliert. Wenn man gelernt hat, dass vom Kleinkind bis zum Greis jeder ein Schwarzfahrer sein kann, fällt es schwer, noch irgendjemandem zu glauben.

Im Fall mit dem betrunkenen Pärchen erklärte er mir jedenfalls, dass er seine Jacke zuhause liegen habe lassen, und da sei seine Karte drin. Ja, ja, deine Mudder, dachte ich nur. Ich ließ es nicht durchgehen, und wurde dafür von ihm als Idiot beschimpft. Ich hätte mich eher als Idiot gefühlt, wenn ich diese Nummer hätte durchgehen lassen. Ich nahm es mit Humor.

Im Grunde habe ich aber ein Bedürfnis, die Gegenseite zur Einsicht zu bringen. Nur gerade das ist selten möglich, wenn ein Konflikt entsteht. Wie er auch endet: das Ergebnis ist unbefriedigend. Solche Dinge lassen mich nicht kalt. Einmal habe ich fast einen Radfahrer umgefahren, weil ich beim Losfahren kurz unaufmerksam war. Dem vorangegangen war ein Disput mit einer Frau, die nicht einsah, dass ich schon wegen des Verletzungsrisikos die Vordertüren nicht mehr öffnen kann, wenn der Bus übervoll ist, und dass ich von vorne auch nicht sehen kann, wieviel Platz es hinten noch gibt.

Die wirklich erinnernswerten Momente: Schönes und Amüsantes

Die wirklich schönen Momente sind eigentlich diejenigen, die man bewahren müsste. Aber von denen verblassen leider nur allzuviele. In einer der letzten Fahrten ließ ich drei Frauen zwischen zwei Haltestellen aussteigen, weil sie im Gespräch mit mir doch zum Schluss gekommen waren, dass sie zu einem nahegelegenen Museum doch besser zu Fuß kämen. Sie waren sehr begeistert, aber hätte ich den Job weitergeführt, hätte ich das vermutlich schon längst wieder vergessen.. Herausragende Erlebnisse wie der Dank einer Norwegerin, deren Tasche ich im Bus wiedergefunden hatte, und die mich dafür umarmte, sind selten.

Jenseits der Kategorien Gut und Schlecht gibt es noch die grotesken Dinge, die immer mal wieder vorfielen. Unvergessen ist mir ein Vorfall beim Karolinska-Krankenhaus. Ein Pärchen stieg ein, und er war so betrunken, dass er es schon kaum in den Bus schaffte. Der Ausstieg klappte immerhin einigermaßen, aber gerade als ich losfahren wollte, hörte ich hinten etwas gegen den Bus schlagen. Der Mann war hinter dem Bus hingefallen und lag nun wie ein Käfer auf dem Rücken auf der Straße und strampelte mit allen Vieren. Er bekam es koordinatorisch nicht mehr hin, sich umzudrehen und auf den Bürgersteig zu „retten“. Ich fasste meine Fahrgäste grundsätzlich nicht an. Liegen lassen konnte ich ihn aber auch nicht. Also sagte ich, dass man dann wohl den Wachdienst oder die Polizei rufen müsse, wenn er nicht da weg kann. Seine Begleitung wandte sich aber nicht gegen mich oder versuchte, ihn aufzuheben. Sondern sie rief „Mensch, jetzt steh‘ doch auf. Der ruft sonst die Polizei.“ Und trat ihn. Es war ein höchst interessantes Schauspiel. Ich wartete etwas und rief dann die Zentrale ein, und sie sagten, ich könne weiterfahren – sie würden jemanden hinschicken. Bis dahin hatte er Mann endlich den Bürgersteig erklommen. Nun am rettenden Ufer gelandet war auch ich beruhigt. Offensichtlich ging auch sonst alles glatt. In der nächsten Runde waren sie nicht mehr da.

Leider wurden aber auch solche Geschichten in letzter Zeit selten. Ticketärgernisse schienen eine immer größere Rolle zu spielen. Auch musste ich mich der Realität stellen, dass Busfahrer nun nicht gerade eine Karriereoption ist. Manchmal denke ich mir auch, dass ich zu spät aufgehört habe und schon längst andere Dinge hätte machen können, die mich in meiner echten Karriere mehr voranbringen. Das werde ich aber wohl erst in fernerer Zukunft wirklich beurteilen können.

Dabei ist nicht einmal ausgeschlossen, dass es nicht doch ein Comeback gibt. Wenn ich mit meiner Doktorandenstelle fertig bin, kann es vielleicht eine Lücke geben, und bevor ich gar nichts mache, klemme ich mich gerne nochmal hinters Steuer – dann aber mit einem anderen Chef und vermutlich näher gelegen in Nacka und Värmdö. Wahrscheinlich ist das alles jedoch nicht, und das ist wohl auch gut so.

Auch für Randy Cohen geht es weiter. Er wurde zwar im Gegensatz zu mir gefeuert, aber bereitet schon eine neue Sendung bei NPR vor.

Nachtrag 8. April 2011: vorgestern habe ich meine Klamotten und sonstigen Dinge (Stempel etc.) abgegeben. Mein Chef war ausgenommen freundlich, bot mir auch sogleich an, mich wieder zu melden, wenn ich wieder fahren wollte, und wünschte mir alles Gute. Das relativiert zumindest die vorangegangenen Verstimmungen und macht den Abschluss weit versöhnlicher als gedacht.

Das Sahnehäubchen war aber, dass ich 10 Minuten später bei einem Kurzeinkauf bei LIDL Peter traf. Er ist auch Deutscher und hatte 2007 gemeinsam mit mir den Einführungskurs gemacht. Er fährt immer noch – mittlerweile sogar Vollzeit – und beförderte kürzlich Freunde von mir nach Skeppsholmen in der Linie 65.

Was für schöne Zufälle es doch gibt.

Heute: Volksabstimmung in Baden-Württemberg

Wer dachte, dass es sich heute in BaWü nur um eine schnöde Landtagswahl handele, irrt.

Heute ist eine Volksabstimmung, in der es im Grunde darum geht, ob man in Baden-Württemberg künftig überhaupt noch Wahlen durchführen muss. Wenn nämlich die CDU gewinnt, dann kann man sich künftig die Abhaltung dieses teuren Regierungsbestätigungsinstruments auf absehbare Zeit sparen. Wer ca. so lange an der Macht ist wie Gaddafi und Honecker zusammen, dann ziemlich eindrücklich darlegt, dass es doch egal ist, was die Leute denken und anschließend von der Jahreshauptversammlung des Atomkraftfanclubs direkt zum Castorprotest geht, und trotzdem wiedergewählt wird – der ist unabwählbar, und zwar im besten demokratischen Sinne, weil die Leute es nicht anders wollen. So einfach ist das.

Wie man inhaltlich so aufgestellt ist, legte folgende Anzeige gestern dar:

Wahlanzeige der CDU (Ausriss aus dem Badischen Tagblatt vom 26. März 2011)

Besonders perfide ist der dritte Punkt: als wäre die Schlichtung die Erfindung der CDU, soll man nun der Garant dafür sein, dass der Kompromiss umgesetzt wird.
Auch der Rest ist fragwürdig: neben einem fast schon adenauerschen „Keine Experimente“, die man bei einer so selbstgefälligen Partei wohl erwarten muss, bleibt für mich vor allem die Frage, welche Steuern denn grün-rot bitteschön erhöhen kann. Liegen irgendwelche Steuern, die den Durchschnittsmenschen betreffen, überhaupt in der Gewalt der Länder? Oder noch allgemeiner: haben die Länder überhaupt die Kontrolle über Steuern jenseits der Mitwirkung im Bundesrat?

Schauen wir mal kurz zur Konkurrenz:

Wahlanzeige der SPD mit dem lokalen Landtagskandidaten Ernst Kopp (Ausriss aus dem Badischen Tagblatt vom 26. März 2011)

Ich bin natürlich als Sozi vorbelastet. Zudem kommt Ernst Kopp auch noch aus dem Ort, aus dem ich selbst stamme. Ich bemühe mich trotzdem um eine nüchterne Betrachtung. Die üblichen „Zukunft ist gut für uns alle“-Versprechen sind natürlich nicht wirklich etwas Neues. Ich finde es erfreulich, dass man sich nicht dem Populismus hingegeben hat und das offenkundige Atom-Thema nicht gleich als erstes bringt. Die Umschiffung des Themas Stuttgart 21 ist irgendwo auch nicht verwunderlich, denn die SPD hat dabei auch keine gute Figur gemacht. Man darf gespannt sein, ob das viele Wähler überzeugen wird.

Die Grünen, vielleicht heute abend die zweitstärkste Kraft im Land, haben übrigens keine Anzeige in der Zeitung geschaltet.

Dafür aber die FDP, und zwar dieses geniale Stück:

Wahlanzeige der FDP-Kandidatin Irene Ritter (Ausriss aus dem Badischen Tagblatt vom 26. März 2011)

Mit Verlaub, liebe FDP: wenn eine Kandidatin betonen muss, dass sie hellwach und somit gerade in vollstem Besitz ihrer geistigen Kräfte ist – was ist dann der Standard bei der FDP?

Das muss man vor allem fragen, wenn man diesen hochnotpeinlichen PR-Ausrutscher anschaut:

Da ist noch Luft nach oben in Sachen Wahlwerbung. Hoffentlich jedoch nicht in den Wahlergebnissen. Wer immer noch nicht eingesehen hat, dass die FDP eine populistische Klientelpartei mit nur einem Programmpunkt ist, kann in den letzten zwei Jahren nicht so oft hellwach gewesen sein.

Ich bin gespannt auf 18 Uhr und darauf, ob ich in meinem Leben doch tatsächlich mal einen Regierungswechsel in Baden-Württemberg erleben darf.

Aha: die Gegend um Fukushima strahlt also „wie Tschernobyl“

Die Belastung der Gegend um Tschernobyl 10 Jahre nach dem Unglück: über 50% höher als in Fukushima (Bild: Sting/Creative commons share alike attribution 2.5 given by User:Sting)

Die taz gibt sich heute die Ehre mit einem leider beispielhaften Artikel über das Unglück in Fukushima.

Dort heißt es:

Es war eine dürre Zeile im x-ten Absatz einer Pressemeldung: „Die zugänglichen Resultate zeigen eine Kontamination im Bereich 0,2 bis 0,9 MBq pro Quadratmeter.“ Dieser für Laien unverständliche Satz deutet eine mögliche Katastrophe für die Bewohner der Region rund um das japanische AKW Fukushima Daiichi an. Übersetzt heißt das nämlich, dass an den Messpunkten in der Region Strahlenwerte gemessen werden wie an den berüchtigten „Hotspots“ der evakuierten Zone rund um den ukrainischen Katastrophenreaktor Tschernobyl.

Eine mittlerweile drei Tage alte Pressemeldung herauszukramen ist schon fragwürdig an sich.

Zwar fragt der Autor Reiner Metzger immerhin Fachleute, aber eine wichtige Sache wird – nicht ganz zufällig, wie man bei dem Titel vermuten kann – unterschlagen: in Tschernobyl sind diese Werte nach 25 Jahren so hoch, in Fukushima sind aber erst wenige Tage vergangen.

Wäre das strahlende Material ausschließlich Cäsium-137, dann wäre die Panikmache nachvollziehbar, denn dieses hat eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren. Das andere wichtige strahlende Element in dieser Sache ist jedoch Jod-131, und das zerfällt in rund 8 Stunden Tagen zur Hälfte.
Während also dieser Artikel erscheint, ist das vor drei Tagen noch vorhandene Jod-131 schon zu über 99% zu 23% zu Xenon-131 zerfallen. Dass also irgendwo kürzlich 0,9 MBq pro Quadratmeter gemessen wurde, sagt kaum etwas über die heutige Strahlenbelastung aus.

Man kann sich ausmalen, welche gigantischen Mengen von I-131 und Cs-137 um Tschernobyl niedergegangen sein müssen. Wenn man einen Taschenrechner bemüht, dann kann man anhand einfach zugänglicher Quellen ersehen, dass in Tschernobyl noch im Jahr 1996 die Belastung an einigen Stellen bei über 1,5 GBq pro Quadratmeter gelegen hat. Auf die Idee ist aber Reiner Metzger offenkundig nicht gekommen.
Die Strahlung in Tschernobyl war also 10 Jahre nach dem Unglück an den Hotspots mindestens 50% höher als in Fukushima nach einigen Tagen.

Fukushima in dieser Hinsicht allen Ernstes mit Tschernobyl vergleichen zu wollen zeugt entweder von Unwissenheit oder grandioser Sensationshascherei.

Eigentlich hatte ich den Eindruck, dass die wissenschaftliche Qualität der Fukushima-bezogenen Nachrichten etwas besser wurde in den letzten Tagen. Leider ist das nicht durchweg so.

Nachtrag: Wenn man Nachlässigkeiten anderer kritisiert, muss man zu seinen eigenen stehen. Jod-131 hat natürlich eine Halbwetszeit von 8 Tagen, nicht Stunden. 99% sind also erst nach 53,3 Tagen zerfallen, nicht schon nach 3 Tagen. Das ändert am Grundproblem aber nichts: in zwei Monaten wird das Jod verschwunden sein, und erst dann kann man überhaupt sehen, wie stark die Gegend wirklich dauerhaft belastet ist.

Palme-Nachschlag

Meine Beiträge zum 25. Jahrestag der Ermordung des damaligen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme waren natürlich nicht die einzigen zum Thema.

Daher noch einige Hinweise auf weitere interessante Fundstücke, die mir untergekommen sind:

  • Der Deutschlandfunk berichtet in seinem Hintergrund gewohnt fundiert und unaufgeregt über das Thema. Besonders erfreulich finde ich, dass sie sich nicht auf eine These stürzen, sondern verschiedene Aspekte streifen.
  • Genau letzteres kann man über zwei weitere Beiträge nicht sagen. Einer wurde mir dankenswerterweise über die Kommentare zugetragen: der Artikel „Mordsmäßiges Schweigen“ von Henrik Andersson, der im Tagesspiegel veröffentlicht wurde. Nachdem der Autor konstatiert, dass immer wieder dubiose Theorien zum Mord auftauchen, präsentiert er direkt seine eigene, die selbstverständlich nicht dubios ist. Andere Kandidaten werden mit schnellen Bemerkungen zur Seite gewischt, und stellenweise grenzt das Ganze an Verschwörungstheorie.
  • Ähnlich gingen vor 10 Jahren die Macher des Films „Mord in Stockholm“ vor. Da läuft es auch so heraus, dass es doch glasklar sei, wer Palme ermordet habe. Die Sendung lief auf BR Alpha am 27. Februar, aber ist online anscheinend nicht verfügbar.
  • Bayern 2 hingegen weist darauf hin, dass Palme doch tatsächlich vor seiner Ermordung ein Leben geführt hat, über das es auch etwas zu erzählen gibt. Es ist ein schönes Palme-Porträt geworden mit einigen schönen Abschnitten, in denen er sein mit großem Wortschatz ausgestattetes, fast fehlerfreies, aber stark schwedisch eingefärbtes Deutsch spricht.